Die großen Umwälzungen unserer Zeit sind gekennzeichnet durch außerordentliche Komplexität, Globalisierung und demographischen Wandel. Wer bei Innovationen, Lösungen und Methoden nicht in der Lage ist, sich permanent und fließend an diese neuen Herausforderungen anzupassen, kann am Markt leicht ins Hintertreffen geraten. Der Bedarf an Fachkräften ist kaum zu decken und wächst stetig. Vernetzung über Landesgrenzen, gar über Kontinente hinweg, verändert die Arbeitsweise von Milliarden von Menschen auf ungekannte Art und Weise. Das schafft Vergleichbarkeit in Bereichen, die bisher nicht der Konkurrenz unterworfen waren und lässt Hierarchien als nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Wenn die Erreichbarkeit eines Vorgesetzten im Nebenbüro weniger gegeben ist als der Kontakt zu Kollegen in Südostasien, ist dies einem Mitarbeiter heutzutage nicht mehr zu vermitteln.
Ein Eisberg der Ignoranz oder was wird aus den Hierarchien?
Manager sehen sich aktuell mit einem radikalen Wandel in der Personalführung konfrontiert, der das Verhältnis von Führendem und Geführten quasi auf den Kopf stellt. Die Zeiten langfristiger Planung sind mit einem globalen und immer fluiden Markt in Auflösung begriffen. Stattdessen fordert das Prinzip der Kurzfristigkeit, dass Entscheidungen umgehend und situationsabhängig getroffen werden müssen. In solch einer Lage müssen sich auch Pläne sehr schnell anpassen lassen können. Selbst wenn das bisherig Geschäftsmodell durchaus von Erfolg gekrönt war, ist das in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung keine Garantie für ein „Weiter so“. Die Frage nach der gelungenen Führung drängt sich hier also förmlich auf.
Der Berater Sidney Yoshida entdeckte im Jahr 1989 bei seinen Untersuchungen der Arbeits- und Führungsgewohnheiten des japanischen Autoherstellers Calson, dass „nur 4% der Frontprobleme einer Organisation dem Top-Management, 9% dem mittleren Management, 74% den Vorgesetzten und 100% den Mitarbeitern bekannt sind.“ Dieses Problem wurde weltberühmt unter dem Namen „The Iceberg of Ignorance“ und veranschaulicht deutlich, dass die bisherige starre Unternehmensführung nicht mehr zu einer Wirtschaftsmethode passt, die vor allem auf Veränderungen zu reagieren hat.
Agiles Unternehmen: Definitionen und Prinzipien
Wer das Wörtchen „agil“ hört, denkt zuerst einmal an Beweglichkeit. Dieser erste Gedanke trifft auch das Prinzip des agilen Führens sehr gut. Denn agile Führungsqualitäten beinhalten diejenigen Maßnahmen und Entscheidungen, die zur Flexibilisierung und Anpassung eines Unternehmens oder eines Teilbereichs beitragen. Der Betrieb wird dauerhaft in Bewegung versetzt, wandelbar gestaltet, sowohl in der Personalführung als auch in der Produktpalette.
„Agilität ist das Gegenteil von Planerfüllung, hat aber nichts mit Planlosigkeit zu tun. An die Stelle starrer Ziele treten viel mehr Visionen“, offenbart der Wirtschaftswissenschaftler Horst Wildemann in seinem Buch „Nur die Agilen werden überleben“.
Diese Definition zeigt, dass agiles Führen ein Mind-Set ist, welches sich auf verschiedenste Handlungsstrategien stützt. Prozesse werden nach unten verlagert und nicht mehr von oben bestimmt, Teams legen selbständig lösungsorientierte Ansätze vor, Mitarbeiter werden nicht aufgrund von Kriterien wie Gehorsam oder Pflichtbewusstsein befördert oder ausgewählt, sondern wegen ihrer Fähigkeit, Systeme zu hinterfragen. Es wird also nicht mehr als oberstes Prinzip ein Produkt hergestellt und vermarktet, sondern es werden Kundenwünsche realisiert. Diese können zum Teil erheblich von dem bisherigen Angebot an Dienstleistungen bzw. Produkten abweichen, ermöglichen es dem Unternehmen jedoch, den Markt weiterhin aktiv mitzugestalten und nicht durch neue Konkurrenten verdrängt zu werden.
Agile Führung – warum ist sie nötig?
Führungskräfte, die zum Erfolg ihres Unternehmens beitragen wollen, sollten sich darauf einlassen, dass seitens der Mitarbeiter hinterfragt wird, ob die vorgeschlagenen Lösungen noch funktionieren. Agiles Führen muss offen dafür sein, dass Teammitglieder andere Ideen haben, die schneller zur Lösung des Problems führen als die bisher üblichen Lösungsansätze. Die Zeiten, in denen die Autorität einer Führungskraft allein in ihrem Posten begründet lag, sind endgültig vorbei. Eine weltweite Vernetzung legt den Finger in die Wunde, deckt Fehler auf und ebnet Wege zu Lösungsansätzen, die vorher im Verborgenen geblieben wären. Auf diese neuen Quellen der Erkenntnis der eigenen Mitarbeiter zu setzen, zeichnet eine gelungene agile Führung aus.
Welche Prinzipien und Methoden gibt es?
1. Entscheidungen optimieren
Je höher in der Unternehmenshierarchie Entscheidungen getroffen werden, desto länger dauert der Entscheidungsfindungsprozess und desto weniger hat die tatsächliche Entscheidung mit dem aktuellen Umfeld und dem Bedarf am Markt gemeinsam. Je näher Entscheidungen an den Prozessen orientiert sind, desto schneller und kundenorientierter fallen sie aus. Dass nicht immer alle Mitarbeiter wichtige Entscheidungen treffen oder mittragen wollen, ist leider wahr. Daher gilt es, erst einmal zu definieren, was richtige Entscheidungen kennzeichnet und wie man es bewerkstelligt, diese auch zu treffen. Dazu ist es nötig, folgende Kriterien etwas genauer zu beleuchten.
2. Handlungsfähige Teams bilden
Wer Agilität fordert, muss zunächst einmal in der Lage sein, seine Mitarbeiter zu motivieren. Das Ziel sind selbstorganisierte Teams, die eigenverantwortlich entscheiden, auf welche Weise eine Aufgabe am besten zu bewältigen ist. Diese Teams lassen sich nicht dadurch motivieren, dass man ihnen Vorschriften macht. Die kompetente, agile Führungsform ergibt sich aus einem Teamleader, der hilft, zuhört und fragt, anstatt zu befehlen.
3. Vertrauenskultur („Fehlerkultur“) ermöglichen
Wer begriffen hat, dass er nicht als Befehlshaber aufzutreten braucht, um Autorität auszustrahlen, der schenkt seinen Teammitgliedern Vertrauen. Wenn Handlungsbereiche klar definiert wurden, kann der Teamleader endlich das „Loslassen“ üben. Teamarbeit kann sich nur dann als produktiv erweisen, wenn die Teams nicht ständig unter Beobachtung stehen. Ein agiler Teamleader zollt seinen Mitarbeitern Anerkennung und versucht diese nicht durch überkritisches Beäugen einzuschüchtern. Wichtig ist das Ergebnis, nicht der Prozess.
4. Effektive Kommunikation auf allen Ebenen
Kommunikation ist das A und O, wenn es darum geht, veränderte Rahmenbedingungen oder neue Kundenwünsche aufzufangen und in das bereits laufende, möglicherweise schon weit fortgeschrittene Projekt zu integrieren. Regelmäßiger Austausch der Projektmitglieder mit ihrem Leader ist deshalb so wichtig, damit sich alle Beteiligten weiterhin dem Projekt und ihrer individuellen Verantwortung dem gemeinsamen Prozess gegenüber verantwortlich fühlen. Wer sich wenig für die Arbeit seiner Mitarbeiter interessiert, verliert schnell den Überblick für das bisherig Erreichte.
5. Weniger direkte Führung und Gängelung
Wenn die bis hierhin erläuterten Prinzipien umgesetzt werden, ist es möglich, die interne Führung erheblich zu verändern. So fungiert die Führungskraft nicht mehr als jemand, der Anweisungen gibt, sondern als eine Vertrauensperson, die dem Team einen Rahmen eröffnet, innerhalb dessen die Projektteilnehmer ihre Aufgaben selbst erkennen und aus eigenem Antrieb durchführen.
Das Modell Spotify
Ein agiles Unternehmen, das besonders erfolgreich arbeitet, ist die schwedische Streaming-Plattform Spotify. Wenn der Gründer von Spotify Daniel Ek verkündet. „We aim to make mistakes faster than anyone else.“, ist dies nicht gleichbedeutend damit, keinen wirtschaftlichen Erfolg zu generieren. Im Gegenteil: Durch die Erlaubnis von oben, Fehler nicht nur zu machen, sondern sie auch eingestehen zu dürfen, wird das Lerntempo und die Entwicklung vieler Themenbereiche enorm beschleunigt. Dabei ist die Belegschaft von Spotify grundsätzlich anders strukturiert als wir es aus herkömmlichen Unternehmensstrukturen kennen:
Der Kern des Spotify Modells besteht aus autonomen Teams, den sogenannten „Squads”. Diese Teams von bis zu 8 Personen verantworten einen vorher definierten Bereich oder ein bestimmtes Feature. Ihre Zuständigkeit reicht von der Idee, über die Konzeption und Entwicklung bis hin zum Erfolg am Markt. Jede Spotify Squad ist einer sogenannten „Tribe” (Stamm) zugeordnet, in denen wiederum „Chapter” existieren. Dabei ist das Organisationskriterium für ein Chapter fachlicher begründet. So gehören beispielsweise alle Designer innerhalb einer Tribe einem Chapter an. Der Chapter-Führer ist auch gleichzeitig die Führungsperson des zugehörigen Mitarbeiters. Dieser Aufbau ermöglicht hohe Flexibilität. Desweiteren kreierte das Spotify Model sogenannte „Guilds”. Die Gilde ist eine freiwillige Gruppierung, die den fachlichen Austausch der Mitglieder untereinander ermöglichen soll.
Warum macht agile Führung in der heutigen Zeit Sinn?
Da sich durch Globalisierung und Digitalisierung Märkte mittlerweile so schnell und radikal wandeln, macht es durchaus Sinn darüber nachzudenken, ob sich Führungsstrukturen in Unternehmen nicht auch an diese veränderten Rahmenbedingungen anpassen sollten. Die Zeiten, in denen jahrelang gleichbleibend wachsende Absatzmärkte für hochpreisige Industriegüter gegeben waren, sind passé. 3-Drucker ersetzen viele aufwendige Produktionsschritte weltweit, der Bedarf an Rohstoffen verändert sich grundlegend und durch die zunehmende Vernetzung entsteht zwischen Betrieben Konkurrenz, die zuvor niemals in Kontakt gekommen wären. Dieses Phänomen wird auch als „VUCA“ bezeichnet und steht für
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- Volatility (Unbeständigkeit)
- Uncertainty (Unsicherheit)
- Complexity (Komplexität)
- Ambiguity (Mehrdeutigkeit)
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Auf diese extremen Rahmenbedingungen mit herkömmlichen Unternehmensstrukturen zu reagieren, schadet nicht nur dem wirtschaftlichen Erfolg des Betriebs, sondern auch seinen Mitarbeitern. Diese sind überfordert mit der bloßen Vorgabe: „Lasst Euch endlich mal was Neues einfallen!“ Hier ist die umsichtige, transformationale Führung eines agilen Teamleaders gefragt, der die Beschäftigten dazu ermuntert, sich selbst und ihre Arbeit in einem ganz neuen Kontext zu betrachten und zu bewerten. Die Motivation, die aus solch einem Perspektivwechsel erwächst, ist mit den bisherigen Belohnungs- bzw. Bestrafungsmechanismen nicht zu bewerkstelligen. Erst die Selbstwahrnehmung als individuellem Bestandteil eines Ganzen macht aus einem befehlsempfangenden Mitarbeiter ein selbständiges Projektmitglied.
Wie gelingt es, agiles Management im eigenen Unternehmen zu etablieren?
Wenn ein bestimmtes Umfeld sich als nicht mehr berechenbar erweist, weil so viel Dynamik herrscht, dass man kaum Schritt halten kann, macht es Sinn, eine agile Führungsform zu etablieren. Mitarbeiter sollten dazu ermuntert werden, selbst zu denken und an Lösungen aus eigenem Interesse mitwirken zu wollen, nicht, weil es „der Chef so will“. Es darf jedoch nicht zu viel von den Teammitgliedern erwartet werden, da viele zuerst einmal kein Interesse verspüren, sich zu äußern. Ein agiler Teamleader wird hart an der Eigenverantwortlichkeit seiner Projektteilnehmer arbeiten müssen, das kostet Zeit und Energie. Die meisten Mitarbeiter lassen sich durch sogenanntes Alignment, ein „höheres Ziel“, begeistern, dass übergeordnet für eine bestimmte Denkweise oder gar Unternehmensphilosophie steht. Hat die Führungskraft diese selbst verinnerlicht, lassen sich auch die Teammitglieder begeistern.
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