WeChat & Co. – Sind Super-Apps die neuen Disruptoren?

Von   Martin Häring   |  CMO und Vorstandsmitglied   |  Finastra
21. Januar 2020

Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung ist heute online. Der Anteil hat sich in den letzten zwei Jahren verdoppelt. Schwellenländer sind dabei Mobile-First-Regionen, in denen das Smartphone alleiniger Internet-Access ist. Dort werden neue Trends geboren, die schon alleine aufgrund der Bevölkerungsdichte schnell tonangebend sind. Besonders deutlich zeigt sich dies in der App-Nutzung.

WeChat, die Mutter der Super-Apps

In den letzten fünf Jahren kam in China der Trend zur Super-App auf. Entgegen dem konventionellen Modell der Single-Purpose-App, welche eine zentrale Funktion anbietet, deckt eine Super-App eine Bandbreite an verschiedenen Diensten ab. Der bekannteste Vertreter seiner Art ist WeChat von Tencent. Ursprünglich als Messaging-Dienst gestartet, hat sich die Anwendung in den vergangenen Jahren zu einer Komplettlösung entwickelt. Rund eine Milliarde Menschen nutzen die multifunktionale App, um Chats, Sprach- und Videoanrufe zu tätigen, sich mit Freunden zu vernetzen, Nachrichten zu lesen, ihre Fitness zu überwachen, sich mit Spielen die Zeit zu vertreiben oder mobil zu bezahlen. Durch zahlreiche Miniprogramme können darüber hinaus auch Drittanbieter ihre spezialisierten Dienste direkt in der WeChat-App zur Verfügung stellen. Dadurch wird das Ökosystem von WeChat immer komplexer und die App quasi zur eigenen Betriebsplattform. Für den Nutzer steht dabei die einfache, intuitive Bedienung im Vordergrund – ein Login, alle Möglichkeiten.

 

Neue Challenger entstehen in Schwellenländern

Diesem Vorbild eifern Apps auf der ganzen Welt hinterher, aber vor allem in den Mobile-First-Regionen erfreuen sie sich größter Beliebtheit. Alipay von Alibaba in China, Grab in Malaysia, Gojek in Indonesien, Line in Thailand, Truecaller und Paytm in Indien oder Rappi in Lateinamerika sind Beispiele für Super-Apps, die zunächst als Single-Purpose-App gestartet sind, aber nach und nach ihren Funktionsumfang erweitert haben. In der Regel vereinen die Super-Apps unter einer Benutzeroberfläche Messaging (ähnlich WhatsApp), Social Media (ähnlich Facebook), Marketplaces (ähnlich eBay) und Services (ähnlich Uber). Damit decken sie den gesamten Customer Lifecycle ab – für quasi jedes Produkt und jeden Service. Und ganz nebenbei können sie auf diese Weise eine große Menge an Daten sammeln. Häufig kommt dann künstliche Intelligenz zum Einsatz, um immer zielgerichteter Angebote auf die einzelnen Nutzer zuzuschneiden und die User und Customer Experience kontinuierlich zu optimieren.

 

Disruption der Finanzbranche

Mit diesem Ansatz werden die Super-Apps zur ernstzunehmenden Bedrohung für die asiatische Finanzbranche. Sie nutzen ihre Präsenz, um sich auch in diesem Bereich zunehmend zu etablieren. Ein Beispiel ist Grab, das im letzten Jahr nicht nur angefangen hat, Versicherungen anzubieten, sondern auch Kredite [1] an klein- und mittelständische Unternehmen zu vergeben. Dabei kann Grab die Kreditwürdigkeit von Nutzern viel detaillierter erfassen als traditionelle Institutionen, indem es die Daten aus dem eigenen Bezahldienst GrabPay, aber auch die Vermittlungen von Mitfahrgelegenheiten und Geo-Daten analysiert. Auch WeChat und Alipay offerieren grundlegende Banking-Services sowie Geldanlagen. Dafür hat WeChat eigens WePay sowie WeBank ins Leben gerufen, Alibaba neben dem inzwischen als Super-App fungierenden Alipay auch Ant Financial. Truecaller bietet ebenfalls Payment-Lösungen und Überweisungen zwischen App-Nutzern an und will demnächst auch Kredite vergeben. Gojek wiederum hat kürzlich eine Partnerschaft mit der Siam Commercial Bank verkündet, um deren Kunden Zugriff auf ihre digitale Geldbörse anzubieten. Außerdem will Gojek nach erfolgreicher Genehmigung durch die Bank of Thailand auch Kredite anbieten. Auf der einen Seite verschafft die Kooperation mit Super-Apps den Banken einen neuen Kundenstamm, jedoch verlieren sie auf der anderen Seite die Kontrolle über das Kundenerlebnis und können weder die Kundenbeziehung pflegen noch auf Markenloyalität vertrauen. Daher besteht das Risiko, Schritt für Schritt in den Hintergrund gedrängt und immer mehr zu einem reinen Versorger degradiert zu werden.

 

Der Westen zieht nach

Die Wahrscheinlichkeit, dass Super-Apps auch im Westen Schule machen, steigt. Amazon schwingt sich in Indien bereits zur Super-App auf, wo es E-Payments, Flugbuchungen, Mitfahrgelegenheiten, Lieferservices und mehr anbietet, entweder direkt oder über akquirierte Dienste. Erst kürzlich hat WhatsApp angekündigt, gesamte Warenkataloge im Messenger-Dienst anzuzeigen und in den Stories auch Werbung von Unternehmen ausspielen zu lassen. Darüber hinaus vereint Uber seine Apps Uber und Uber Eats [2] in einer einzigen Anwendung. Aber vor allem für die hiesige Finanzwirtschaft ist die Bedrohungslage hoch. Google hat gerade angekündigt, eigene Girokonten [3] anbieten zu wollen, auf die Kunden über Google Pay zugreifen können. Dafür kooperiert der Internetgigant mit der Citigroup, einer der größten US-Banken. Während Facebook mit dem Projekt seiner eigenen Digitalwährung Libra, einer Kryptowährung ähnlich dem Bitcoin, eher für negative Schlagzeilen gesorgt hat, geht das Unternehmen mit seinem vor Kurzem eingeführten Bezahldienst Facebook Pay einen neuen Weg. Mit Hilfe des Diensts sollen Transaktionen über seine sozialen Netzwerke abgewickelt werden. Verknüpft mit Kreditkartendaten oder PayPal können Nutzer über Facebook und den Messenger shoppen, In-App-Käufe tätigen, Freunden Geld überweisen oder an Organisationen spenden. Zunächst geht Facebook Pay in den USA an den Start, aber schon bald sollen weitere Länder und Plattformen wie Instagram und WhatsApp folgen. Der Trend in Richtung multifunktionale Super-Apps ist auch für den Westen unverkennbar.

 

Banken müssen mit Mehrwert überzeugen

Banken in Europa und Nordamerika müssen diese Entwicklungen als Weckruf verstehen. Wollen sie in Zukunft noch relevant bleiben, müssen sie ihre Angebotsstruktur und ihr Businessmodell überdenken – nicht nur im Banking, sondern auch in angrenzenden Bereichen. Andernfalls droht ihnen die Bedeutungslosigkeit. Obwohl Verbraucher in westlichen Ländern traditionell eher zögerlich ihre Daten teilen, hat eine Umfrage der Data & Marketing Association[4] ergeben, dass das Vertrauen der Verbraucher in den Umgang mit personenbezogenen Daten durch das Inkrafttreten der DSGVO gestiegen ist. Außerdem hat eine weitere Umfrage des Open Data Institute[5] offenbart, das jüngere Generationen zunehmend bereit sind, ihre Daten freizugeben, wenn sie im Austausch einen deutlichen Mehrwert erhalten. Beispielsweise gaben 38 Prozent der 18- bis 24-Jährigen an, dass sie Informationen über ihre Ausgaben teilen würden, um im Gegenzug Tipps zu erhalten, wie sie Geld sparen könnten, etwa bei Geldanlagen, Versicherungen oder Shoppingrabattaktionen. Bei den über 55-Jährigen sind dazu im Vergleich immerhin noch etwa 15 Prozent bereit. Banken sollten das steigende Vertrauen von Verbrauchern mit so viel Mehrwert wie möglich belohnen. Dafür müssen sie die ihnen vorliegenden Kundendaten nutzen, um etwa mithilfe von Predictive Analytics und künstlicher Intelligenz geeignete Produkte anzubieten. Hat ein Paar kürzlich ein Kind bekommen, können Kredite für den Umzug in eine geräumigere Wohnung, ein größeres Auto oder das Eigenheim interessant sein. Ist ein Kunde häufig im Ausland unterwegs, könnte eine Kreditkarte mit Versicherungsschutz und kostenloser Bargeldabhebung von Bedeutung sein. Gleichzeitig spielt nicht nur die Relevanz der Angebote eine ausschlaggebende Rolle, sondern ebenso das Kundenerlebnis. Die Customer Experience wird zur neuen Größe, um den Wert einer Bank zu bestimmen und über ihren Fortbestand zu entscheiden.

 

Kooperationen und Partnerschaften als Lösungsweg

Mithilfe von Open Banking und offenen Schnittstellen können Banken Aspekte von Super-Apps nachahmen, beispielsweise Finanzdienstleistungen von verschiedenen Anbietern zusammenführen. Auf diese Weise gewinnen sie wertvolle Informationen für maßgeschneiderte Angebote, überzeugen mit Übersichtlichkeit und bündeln Funktionen an einer zentralen Stelle. So etablieren sie sich als Go-to-App und kreieren ein nahtloses Kundenerlebnis. Ebenso denkbar ist es, strategische Partnerschaften mit Internetriesen einzugehen, wie die Citigroup es vorlebt. Darüber hinaus können Banken mit Dienstleistern anderer Branchen kooperieren und eine Vermittlerrolle übernehmen, indem sie ihre Infrastruktur für Dritte öffnen, beispielsweise für Dienstleister aus den Bereichen Gesundheit und Versicherung oder Handel und Reise. So geschieht dies etwa bei der Starling Bank, die Versicherungen von Direct Line direkt im Bank-Account integrieren lässt, sodass Kunden innerhalb der App Angebote erhalten können.

Der Kampf um die Positionen an vorderster Front im Kundenkontakt wird sich in der westlichen Welt durch Super-Apps weiter verschärfen. Banken müssen sich positionieren, um dem steigenden Druck zu begegnen: Wollen sie selbst eine multifunktionale App anbieten, sich mit innovativen Tech-Plattformen verbrüdern oder als Versorger im Hintergrund aktiv sein? Der Schlüssel zum Überleben wird der strategische Einsatz von Open Banking sein. Denn wer glaubt, sich und seine Daten abschotten zu können, wird am Ende nur selbst aus der Welt der Innovationen ausschlossen sein.

Quellen und Referenzen:

[1]https://techcrunch.com/2019/03/19/grab-launches-sme-loans-and-micro-insurance/

[2]https://techcrunch.com/2019/06/04/uber-eats-uber-eats/

[3]https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/girokonto-google-pay-1.4680347

[4]https://dma.org.uk/uploads/misc/data-privacy-an-industry-perspective-2019-v4.pdf

[5]https://theodi.org/article/odi-survey-reveals-british-consumer-attitudes-to-sharing-personal-data/

 

Als CMO ist Martin Häring Teil der Geschäftsleitung von Finastra und für die Strategie und Ausgestaltung des weltweiten Marketings verantwortlich. Der führende Marketing- und Technologieexperte verfügt mit mehr als 25 Jahren Erfahrung über maßgeblichen Einfluss im Tech-Marketing.

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