Das IoT hilft Digital Twins auf die Sprünge

Von   Murli Mohan Srinivas   |  Head of Industry 4.0 Germany & Global Digital Twin Business Owner   |  Atos
6. August 2019

Digital Twins sind im Kommen. Das Marktforschungsinstitut Gartner schätzt, dass bis Ende 2022 über zwei Drittel der Unternehmen, die IoT-Technologien einsetzen, auch mindestens einen Digital Twin in ihre Prozesse integrieren werden. Die Vorteile der digitalen Zwillinge: effizientere Entwicklungs- und Produktionszyklen sowie bessere Planung durch datenbasierte Prognosen.
Digital Twins simulieren den Aufbau und das Verhalten physischer Produkte oder deren Komponenten in virtueller Form. In einem digitalen Zwilling lassen sich alle Ebenen eines Produkts oder Prozesses, die von Sensoren gemessen werden können, abbilden. Je genauer die Sensoren die benötigten Daten erfassen und je höher die Rechenleistung, mit der sie verarbeitet werden, desto realitätstreuer wird das virtuelle Modell.

Unternehmen können Digital Twins im gesamten Produktlebenszyklus einsetzen, in der Regel finden sie jedoch hauptsächlich in der Produktentwicklung, der Produktion und beim Service Verwendung. Gerade zu Beginn der Entwicklung lassen sich potenziell kostspielige Änderungen virtuell auf ihre Validität überprüfen. So validieren Datenexperten das Design etwa durch Simulationsverfahren auf Basis von Echtzeitdaten aus dem Feld. Digital Twins für die Produktion sind das digitale Abbild von Maschinenkomponenten oder kompletten Anlagen, Steuerungselementen, Sensorik und Prüfprogrammen. Aus diesen Simulationen können die Verantwortlichen Optimierungen der Prozesse ableiten. Zudem agieren die virtuellen Modelle als zusätzliche Kontrollinstanz für Qualität. So lassen sich Herstellungsprozesse in Echtzeit verfolgen und anpassen. Während der Herstellung eines Produktes entsteht zu jeder Produktinstanz der Digital Twin für den Service. Zu den Anwendungsmöglichkeiten zählen beispielsweise Fernwartungsarbeiten oder die Predictive Maintenance, also die vorausschauende Wartung.

Vorteile greifbar machen

Die Qualität eines Produktes ist ein wesentlicher Faktor, der über den Erfolg des produzierenden Unternehmens entscheidet. Digital Twins bieten Unternehmen zahlreiche neue Möglichkeiten, ihre Produkte durch den innovativen Einsatz von Daten weiter zu verbessern. Mit den datenbasierten virtuellen Modellen lassen sich 3D-Ansichten von Produkten und Prototypen theoretisch in Echtzeit an jeder Workstation abbilden, die an das Unternehmensnetzwerk angebunden ist – sofern die entsprechende Rechenpower vorhanden ist. So können Entwickler ihre Designvorschläge ortsunabhängig vorstellen und mit globalem Feedback effizient weiter verbessert. Auch die praktischen Auswirkungen von geplanten Änderungen und ihre Auswirkungen auf beispielsweise Produktion oder Verpackung lassen sich anhand der Simulationen unmittelbar nachvollziehen.

Die hier gewonnene Effizienz hat positive Auswirkungen auf den gesamten Produktlebenszyklus und bringt den Verantwortlichen vor allem in der Entwicklungsphase mehr Flexibilität und schnellere Reaktionszeiten. Digital Twins helfen Unternehmen dabei, besser auf die schnelllebigen digitalen Geschäftsmodelle des modernen Marktes zu reagieren.

Der Datenreichtum erleichtert außerdem Analysen und Prognosen für die betreffenden Produkte. Experten können mit diesen Daten beispielsweise den Produktionsprozess automatisch an aktuelle Situationen anpassen, um den Materialfluss gesamtheitlich zu optimieren und die Produktivität zu steigern.

Im After-Sales-Bereich helfen Prognosen zum Verhalten von Produkten und Komponenten einerseits, das Kaufverhalten und die Erwartungshaltung der eigenen Kunden zu antizipieren. Andererseits erlauben sie es, Zielsetzungen zu präziseren und die eigenen finanziellen Ziele abzuschätzen. Wichtige Indikatoren wie etwa der Return on Investment (ROI), also die Amortisierung der eigenen Investitionen, lassen sich mit den Erkenntnissen aus dem Digital Twin bestmöglich beurteilen.

Daten sicher sammeln

Da Digital Twins auf große Mengen aktueller Daten aus mindestens einer, meist aber mehreren Datenquellen angewiesen sind, ist es enorm wichtig, diesen Datenverkehr entsprechend abzusichern. Im Idealfall lässt sich dazu der Digital Twin via Anwendungsschnittstelle (API) an die im Unternehmen vorhandenen Tools für User Account & Authentification (UAA) anbinden. Dies gewährleistet ein einheitliches Sicherheitsniveau, ohne den Zugang unnötig zu erschweren. Vor der Wahl des Digital Twin für den Service sollten Entscheider also prüfen, ob er mit ihren eigenen Sicherheitsprotokollen und -standards vereinbar ist. Die Anbindung offener Standards wie OAuth (Open Authorization) ist in vielen Fällen problemlos möglich.

Digital Twin und IoT-Plattformen

Besonders in Produktionsanlagen mit einem bereits hohen Digitalisierungsgrad organisieren Unternehmen die Sensoren, die die benötigten Daten erfassen, in IoT-Plattformen. Denn diese erleichtern die Steuerung und Verwaltung der Daten. Die Sensoren sind im Digital Twin integriert und realisieren damit einen sogenannten Digital Thread. So können die digitalen Zwillinge aus dem vereinigten Datenpool der Plattform schöpfen, anstatt die benötigten Daten einzeln von den Geräten und Sensoren des IoT-Edge abzufragen. Die Anbindung an Plattformen ermöglicht außerdem eine standardisierte Vorgehensweise bei der Verwendung der Daten. Das gilt selbst dann, wenn die Ursprungsdaten aus verschiedenen Datenquellen möglicherweise unterschiedlicher Hersteller oder Formate stammen. Mit Digital Twins können Unternehmen die Mehrwerte der eigenen IoT-Plattformen weiter steigern und die neuen Anforderungen und Zielwerte der digitalisierten Wirtschaft besser erreichen.

Bei der Anbindung von Plattformen ist allerdings die Vielzahl proprietärer IoT-Standards zu beachten. Bis sich hier übergreifende Protokolle durchsetzen, wird die Integration weiterhin von der proprietären Technologie der einzelnen Hersteller abhängen. Bei der Auswahl des Service Providers für einen Digital Twin sollten Unternehmen deshalb zum einen auf ein Beratungshaus mit Erfahrung setzen, das mit dem Portfolio der einzelnen Hersteller vertraut ist und weiß, wie deren Lösungen miteinander interagieren. Zum anderen empfiehlt es sich, den eigentlichen Digital Twin aus einer Hand zu beziehen, um das Risiko von Software- und Hardware-Konflikten zu minimieren und sich die bestmöglichen Support- und Servicedienste im Anschluss an die Investition zu sichern. Um Unternehmen die Auswahl zu erleichtern, ordnen viele Anbieter ihr Angebot nach Industriebranchen, für die einzelne Digital Twins am ehesten in Frage kommen. So existieren spezialisierte Lösungen für Schwerindustrie, Stromanbieter, Transport und Logistik oder die Automobilindustrie.

Wie einsteigen?

Bei Digital Twins gibt es eine Vielzahl von Varianten und potenziellen Anwendungsfeldern. Das erschwert es Unternehmen mitunter, den Einstiegspunkt für ihr Projekt zu finden. Wo, wann und wie starte ich am besten mit dem digitalen Zwilling? Die erste Frage sollte die nach vorhandenen Konstruktions- und Betriebsdaten sein. Im nächsten Schritt werden auf Basis dieser Daten erste Simulationen erstellt. Denn je komplexer die Simulationen, desto mehr Datenpunkte sind für eine repräsentative Darstellung nötig. Der Digital Twin funktioniert also nur als ein Bestandteil einer holistischen Datenstrategie: Je mehr und je genauer das Unternehmen die eigenen Daten erfasst, desto präziser arbeiten die Digital Twins, und umso hilfreicher sind die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse.

Durch die Integration von IoT-fähigen Geräten in den Betriebsablauf lassen sich die für den Digital Twin relevanten Daten gewinnen. Wichtig ist hierbei eine durchdachte und schrittweise Herangehensweise. Die eigene IT-Architektur lässt sich nicht in einem Ruck umkrempeln. Vielmehr benötigen Unternehmen eine individuelle Strategie, die sie gemeinsam mit allen Abteilungen und externen Experten erarbeiten sollten.

Ein Ansatz, der sich in der Praxis bewährt hat, ist sich anfangs auf die sogenannten Minimum Viable Products zu konzentrieren. Hierbei werden die Kapazitäten des Digital Twins zunächst auf Produkte angewendet, die nur minimale Anpassungen benötigen, dem Nutzer jedoch gleich einen greifbaren Vorteil bieten. Denn nichts leistet größere Überzeugungsarbeit als konkrete Erleichterungen der eigenen Arbeitsabläufe.

Ausblick

Die Zahl von Praxisanwendungen für digitale Zwillinge steigt. Unternehmen haben erkannt, dass die Technologie Mehrwerte generiert, die jenseits der bloßen Vernetzung und Datenaggregation liegen. Vielmehr schaffen die Verbindung und Integration von immer mehr IoT-Endpunkten im Zusammenspiel mit weiteren Informationsquellen im Unternehmen den Nährboden, auf dem erfolgreiche Digital-Twin-Projekte gedeihen können.

 

Murli Mohan Srinivas hat über 24 Jahre Erfahrung in Produktentwicklung und -management. Bei Atos ist er verantwortlich für Industrie 4.0 in Deutschland sowie globaler Manager des Fachgebiets Digital Twin und hat bereits diverse innovative Projekte im Bereich Digitale Transformation geleitet.

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