139 Tage Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – und jetzt?

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) ist seit Ende Juni inkraft. Ein Blick auf die deutschen Unternehmen zeigt, dass noch immer Handlungsbedarf besteht. Mit diesen Tipps gestalten Sie ihre digitalen Angebote zugänglicher.
Von   Michael Dueren   |  Geschäftsführer   |  Pfennigparade Business. Inklusiv.
21. November 2025

146 Tage Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – und jetzt?

 

 

Am 28. Juni war der Stichtag, zu dem Unternehmen verpflichtet waren, ihre digitalen Angebote wie Websites, Apps und Selbstbedienungsterminals barrierefrei zu gestalten. So besagt es das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, kurz BFSG. Das ist nun genau 146 Tage her – aber hat sich wirklich etwas verändert? Die gute Nachricht vorneweg: Es gibt viele Beispiele, die zeigen, dass und auch wie es geht. Zahlreiche Websites im alltäglichen Gebrauch bieten bereits eine barrierefreie Variante an. So auch der grüne Energieanbieter Polarstern mit Sitz in München, der kontinuierlich seine Seite auf Barrieren prüft. Auch die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) hat kürzlich die Zugänglichkeit ihrer Apps MVGO und HandyParken weiterentwickelt.

Wer die Umsetzung des Gesetzes aber aufschiebt, riskiert nicht nur rechtliche Konsequenzen (und damit einhergehende Geldstrafen), sondern ignoriert auch gesellschaftliche Verantwortung: nämlich digitale Teilhabe für alle Menschen möglich zu machen. Es besteht mehr denn je Handlungsbedarf, denn nur wer jetzt dranbleibt und seine Webpräsenz von Barrieren befreit, kann langfristig hohe Kosten vermeiden und wettbewerbsfähig bleiben.

 

Barrierefreiheit: kein Zusatznutzen, sondern Grundvoraussetzung für Gleichberechtigung

In der heutigen digitalisierten Welt sind viele alltägliche Vorgänge auf Online-Angebote angewiesen – vom Lebensmitteleinkauf bis zur Vereinbarung eines Arzttermins oder der Fahrplanabfrage im ÖPNV. Doch genau hier scheitern viele Menschen, weil digitale Barrieren ihnen den Zugang verwehren. Wer etwa eine Sehbehinderung hat, auf Gebärdensprache angewiesen ist, unter motorischen Einschränkungen leidet oder altersbedingte Schwierigkeiten bei der Nutzung digitaler Geräte hat, stößt schnell an Grenzen, die schlicht unnötig wären, wenn man sie frühzeitig mitgedacht hätte. Das BFSG regelt gesetzlich die digitale Teilhabe für alle Menschen. Dabei geht es nicht um einzelne Spezialfälle, sondern vielmehr um einen selbstverständlichen Alltag für rund jeden zehnten Menschen in Deutschland.

Besonders problematisch ist es, wenn essenzielle Dienstleistungen nicht barrierefrei gestaltet sind. Der digitale Antrag im Bürgeramt, der Medikamentenverkauf in der Online-Apotheke oder der Ticketkauf bei Verkehrsbetrieben – all diese Funktionen dürfen nicht exklusiv für Menschen ohne Einschränkungen sein. Wer Barrierefreiheit auch digital konsequent mitdenkt, eröffnet echte Teilhabe für die gesamte Gesellschaft und gewinnt dabei eine ganze Menge Kundschaft. Barrierefreiheit ist kein Zusatznutzen für eine kleine Zielgruppe – sie ist Grundvoraussetzung für Gleichberechtigung in einer digitalisierten Gesellschaft.

 

Besser spät als nie: Wie Unternehmen jetzt aufholen können

Digitale Barrierefreiheit ist kein fertiger Zustand, sondern vielmehr ein Prozess. Um diesen erfolgreich zu gestalten, braucht es eine klare Strategie und die Bereitschaft, den Horizont zu erweitern. Unter Beachtung folgender vier Punkte kann die Umstellung gelingen:

 

  1. Bestandsaufnahme: Am Anfang steht die Analyse: Wie zugänglich sind meine digitalen Angebote aktuell? Wo besteht der dringendste Handlungsbedarf, was kann eventuell noch warten? Oft fehlt nicht viel, um die ersten Schritte zur Barrierefreiheit zu gehen, zum Beispiel Tastaturbedienbarkeit, übersichtliche Websitestruktur und einfache Sprache.
  2. Auch kleine Erfolge müssen gefeiert werden: Wer mit niedrigschwelligen Anpassungen beginnt, macht schnell Fortschritte. Barrierefreiheit bedeutet nicht, alles auf einmal umzustellen. Wichtig ist es, bereits kleine Schritte zu kommunizieren und zu feiern, um auch die nötige Transparenz zu schaffen. Das motiviert einerseits das Team, setzt aber auch ein deutliches Zeichen nach außen: Barrierefreiheit ist machbar!
  3. Regelmäßig von Profis testen lassen: Sich externe Hilfe mit ins Boot zu holen, ist in jedem Fall wichtig. Verschiedene Anbieter und Accessibility-Expert*innen stellen ganze Teams bereit, die Websites und Apps auf Barrieren untersuchen und Handlungsempfehlungen geben, wie diese zu beseitigen sind. Am besten können Betroffene weiterhelfen – inklusive Teams und Menschen mit Behinderung wissen genau, worauf es ankommt.
  4. Barrierefreiheit in Prozesse integrieren: Am besten ist es, Barrierefreiheit von Anfang an mitzudenken. Wer sie erst nachträglich integriert, hat oft deutlich höhere Kosten und muss mit technischen Kompromissen leben. Außerdem sollten im regelmäßigen Rhythmus Tests auf Usability durchgeführt werden, gerade auch nach Relaunches oder Produktupdates, um fortwährend Barrierefreiheit im Netz gewährleisten zu können.

 

Barrierefreiheit als Haltung: Menschzentrierung von Anfang an

Digitale Barrierefreiheit ist nicht nur eine technische Frage, sondern vor allem eine Frage der Perspektive. Wer digitale Produkte entwickelt, entscheidet mit jeder Designentscheidung darüber, wer sie nutzen kann – und wer ausgeschlossen bleibt. In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass die nachträgliche Anpassung von bestehenden Systemen aufwendig, teuer und häufig nur unvollständig möglich ist. Es ist daher weit effizienter, Barrierefreiheit bereits in der Konzeptionsphase mitzudenken.

Dabei geht es nicht nur um Compliance, sondern um ein grundsätzliches Verständnis davon, für wen digitale Angebote gemacht sind. Menschen mit Behinderungen sind nicht eine separate Zielgruppe, sie sind genauso Teil unserer Gesellschaft wie alle anderen auch. Produkte, die von Anfang an für unterschiedliche Nutzungsszenarien gedacht werden, sind robuster, zugänglicher und häufig besser durchdacht. Wer die Vielfalt menschlicher Fähigkeiten ernst nimmt, gestaltet automatisch menschzentriert.

Dieses Bewusstsein für Teilhabe, Inklusion und Vielfalt ist nicht nur moralisch geboten, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll. Denn barrierefreie Produkte sind in der Regel benutzerfreundlicher für alle – etwa für ältere Menschen, für Personen mit temporären Einschränkungen oder für Menschen, die sich in schwierigen Nutzungssituationen befinden, etwa unterwegs oder mit eingeschränktem Datenvolumen. Nicht zuletzt stärkt ein solcher Ansatz auch das Vertrauen und die Bindung der Nutzer*innen.

 

Fazit

Digitale Barrierefreiheit ist kein Extra – sie ist essenziell. Digitale Angebote durchdringen längst unseren Alltag. Sie sind kein nettes Extra mehr, sondern oft die einzige Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Gerade deshalb ist es so entscheidend, dass niemand ausgeschlossen wird, denn hinter jedem Klick steht ein Mensch mit Bedürfnissen und Rechten. Nach 146 Tagen BFSG ist klar: Vielen Unternehmen wird durch die Gesetzgebung erst die Notwendigkeit zur digitalen Barrierefreiheit bewusst. Doch es geht bei diesem Thema nicht nur um reine Pflichterfüllung, sondern vor allem um Verantwortung in einer vielfältigen Gesellschaft. Unternehmen, die bisher in dieser Sache noch nicht tätig geworden sind, sollten jetzt handeln, um gesellschaftlich wie wirtschaftlich zukunftsfähig zu bleiben und einen Beitrag für mehr echte Gleichberechtigung zu leisten.

Michael Düren ist seit 2016 Leiter des Geschäftsfelds IT der Pfennigparade Business. Inklusiv. und verantwortet das Kompetenzzentrum „Digitale Teilhabe für Alle“. Als Accessibility Advocate fördert er Zugänglichkeit und Barrierefreiheit sowie den gesellschaftlichen Diskurs aktiv mit.

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