Eine praktische Definition von Digitalisierung basierend auf Kaizen und den Marketing 4P

Von   Sascha Reimann   |     |  Freiberufler
3. April 2020

Wer seinen Vorstandsantrag mit dem Begriff „Digitalisierung“ versieht, darf sich sicher sein, dass sein Anliegen Gehör findet – und dass die Türen zum Boardroom sich höchstwahrscheinlich öffnen werden. Ist man aber in diesem angelangt, dann fängt das Problem schon an: Was ist Digitalisierung? Jeder versteht etwas anderes darunter. Politiker und die Allgemeinheit verstehen darunter meistens flächendeckendes, kabelloses und schnelles Internet oder dass Roboter bald ihre Arbeit machen werden. Mancher Vorstand denkt an das vollautomatisierte, computergesteuerte Unternehmen, das man von einer Kommandozentrale bis ins kleinste Detail kontrollieren kann. Der Mitarbeiter in der Buchhaltung denkt an das elektronische Archiv, das auf Papier verzichtet. Kollegen aus dem Servicebereich arbeiten an der Fernwartung, durch die man mithilfe von Sensoren sowie erweiterter (augmented) oder virtueller Realität eine Maschinenverfügbarkeit von nahezu 100 % zu erreichen imstande ist und nicht erst ein Servicetechniker auf Reisen geschickt werden muss. Andere wiederum sehen Digitalisierung als ein Buzzword, mit dem man Karriere macht und wieder andere möchten die neuesten technischen Errungenschaften im Betrieb sehen, weil es einfach chic ist. Viele der Definitionen oder Meinungen, die man zu hören bekommt, erinnern an Dinge, die man schon in der Dot-com-Ära der späten 1990er und frühen 2000er zu hören bekam: eBusiness und Internetgeschäft. Das papierlose Büro war schon eine Verheißung der 1950er, als die EDV, die elektronische Datenverarbeitung, in der Wirtschaft ankam (vgl. Schuhmann, 2012). Dass auch die Wissenschaft sich noch nicht zu einer klar umrissenen Definition sowie Rahmenkonzepten durchringen konnte, zeigen aktuelle Literaturanalysen (u. a. Hausberg et al., 2019).
Aus dem Nebel der unklaren Begrifflichkeit kommt der Säuretest für den Vorstandsantrag dann, wenn die Vorteile eines Digitalisierungsvorhabens qualifiziert und quantifiziert werden sollen. Hier fehlt mangels anerkannter Definition und Konzepten schon eine einheitliche Klassifikationsmöglichkeit. Macht Digitalisierung das Unternehmen schneller, besser, günstiger oder einzigartiger? Und weil die Digitalisierung relativ neu ist, fehlen die Erfahrungswerte. In der Regel werden die Anträge dann nach einem bewährten Schema abgearbeitet: die Return-On-Investment-Berechnung. Der Return ist natürlich bei jedem Antrag äußert positiv und das Hinterfragen, wie der Antragsteller denn auf bestimmte Werte gekommen ist, artet oft in eine philosophische Debatte aus und endet dann mit dem Totschlagargument: „Wollen wir am Fortschritt teilhaben oder nicht?“. Wer kann da schon nein sagen. Denn wer die Buzzwords und Worthülsen hinterfragt, gilt als Bedenkenträger oder Querulant oder hat es schlichtweg nicht verstanden. Es wäre nicht das erste Meeting, bei dem gesundes Halbwissen regiert und man besser nicht die Bedeutung hinterfragt, um den Anwesenden die Peinlichkeit zu ersparen.

Auf der anderen Seite: ist ein Antrag für ein Projekt oder eine Investition geschrieben, bedeutet dies, dass sich jemand Gedanken gemacht hat – etwas hat sich in der Begriffswolke konkretisiert. Aber soweit kommt es oft gar nicht, denn mangels Verständnis, was Digitalisierung ist, werden Ideen oft gar nicht erst entwickelt und Anwendungsfelder nicht gesehen. Die Sache hängt an wenigen Spezialisten. Digitalisierung muss aber konkret und für jedermann verständlich sein, damit jeder Mitarbeiter Anwendungsmöglichkeiten im eigenen Umfeld sieht und meldet.

Der Mangel an Definition ist ein großes Problem, denn aneinander vorbeizureden bedeutet, dass man die Kraft nicht auf die Straße bekommt[1] – es kommt keine Fokussierung zustande. Andrew McLennan (2011) schrieb ein wichtiges Buch über das Thema Strategieimplementierung – er identifizierte, dass die meisten Unternehmen daran scheitern, eine Strategie in die Realität umzusetzen. Während über den strategischen Planungsprozess sowie über die Inhalte einer Strategie sehr viel geschrieben wurde, ist die Forschung und Literatur über die Umsetzung einer Strategie sehr rar. Eine der wesentlichen Probleme ist daher das fehlende Verstehen der kausalen Kette zwischen einer Strategie, einer damit zusammenhängenden Maßnahme und eines gewünschten Ergebnisses. Bei einem Buzzword-beladenen Thema ist das umso schwieriger, denn die Kausalkette lässt sich zwischen einem wolkigen Begriff unklaren Inhalts und konkreten Maßnahmen schlichtweg nicht bilden. Umso wichtiger ist es daher, bei Digitalisierungsinitiativen hochpräzise Definitionen abzuverlangen, damit Ressourcen sinnvoll allokiert werden. Noch besser ist es, den Mitarbeitern einen Rahmen vorzugeben, mit dem sie den Mehrwert eines Digitalisierungsvorhabens strukturieren können. Dieses soll zeigen, welche Fähigkeit eine Technik dem Unternehmen verleiht und welche Wirkung diese erzielt. Denn keine Technik wird ihrer selbst wegen angeschafft und eingesetzt – sie muss etwas verbessern. In diesem Artikel wird ein solches Klassifikationsschema vorgestellt, aber nicht nur. Der Artikel ist im Folgenden in drei Abschnitte unterteilt:

  • Digitalisierung und Industrie 4.0 vs. Dot-Com-Ära und ihrer New Economy: Viele Postulate der Digitalisierung sind schon vor zwanzig Jahren im Internethype aufgetaucht. Zur Definitionsarbeit gehört auch die Entlarvung des alten Weins in neuen Schläuchen.
  • Das Herzstück der Definitionsarbeit ist ein Klassifikationsschema, um den Zusammenhang zwischen Technik, Fähigkeit und Wirkung herzustellen, wie oben beschrieben.
  • Das Klassifikationsschema soll anhand einer Fallstudie anhand einer dynamischen Frachtenbörse demonstriert werden.

I.Technische Kennzeichen der Dot-Com-Ära waren der Internetboom (mit Suchmaschinen wie Google und Yahoo! sowie Online-Händlern wie Amazon), handliche Mobiltelefone, PDAs oder allgemein: drahtlose Kommunikation; ihre Schlagworte waren Internet, E-Business oder E-Commerce. Der Begriff „Dot-Com“ ist extrem belastet, weil er auch eine Börsenblase beschreibt, die im März 2000 platzte – man denke an die Exponenten der New Economy – damals wurden viele Manager zu einer Art Popstars und machten sich über die Old Economy lustig, bevor die meisten dann selbst auf dem Abstellgleis landeten und nicht wenige vor Gericht. Wenn man weiß, was schon vor vielen Jahren mit viel Brimborium angekündigt wurde und seither nicht verwirklicht wurde, dann bewahrt es einen davor, ein totes Pferd zu besteigen. Die folgende Tabelle stellt die Eigenschaften der unterschiedlichen Industrieären gegenüber:

Phänomenbereich „Old Economy“ (Industrie 3.0) „New Economy“ Industrie 4.0
Volkswirtschaft
Marktgeschehen Stabil Dynamisch Dynamisch/Chaotisch
Wettbewerbsreichweite National Global Global
Organisationsform Hierarchisch/Bürokratisch Vernetzt Vernetzt/Adhoc
Betriebswirtschaft
Produktionslogik Massenproduktion, standardisiert Mass Customization Batch Size One
Zusammenarbeit zwischen Marktteilnehmern Niedrig (möglichst hohe Autarkie) Hoch (Fokus auf Kernkompetenzen) Hoch (Fokus auf Kernkompetenzen beziehungsweise orchestrieren eines Netzwerks)
Fokus der Aktivitäten Breit Spezialisiert Spezialisiert/Variabel
Angestrebte Effekte Skaleneffekte Verbundeffekte Verbundeffekte
Wichtigstes Kapital Industrieanlagen, Maschinen Menschen/Wissen Menschen/Wissen
Schlüsseltechnologien Robotik, Automatisierungstechnik, EDV Internet, drahtlose Kommunikation u.a. 3D-Druck, Sensorik, CPS, Plattformen, Hochleistungsdatenspeicher und –prozessoren
Personalwirtschaft
Grundsatz Stabile, standardisierte Bedingungen (Tarif), Kontrolle Hohe Flexibilität Hohe Flexibilität
Arbeitnehmerautonomie Niedrig Moderat bis hoch Moderat bis hoch
Fähigkeitenspektrum Spezialisiert, standardisiert Breit, individuell Breit, individuell
Bildung Formalisiert, standardisiert, durch den Arbeitgeber getrieben Diversifiziert, durch den Arbeitnehmer getrieben, permanent Diversifiziert, durch den Arbeitnehmer getrieben, permanent
Beziehungskultur Arbeitgeber/Arbeitnehmer Industrielle Arbeitskämpfe zwischen homogenen, durchorganisierten Gruppen („Massenorganisationen“); Tarifautonomie Arbeitnehmer sind eine diversifizierte, heterogene Gruppe mit sinkendem Organisationsgrad; Topkräften gelingen Spitzengehälter, die Masse verdient eher schlecht; Staat muss mit Mindestlöhnen eingreifen Arbeitnehmer sind eine diversifizierte, heterogene Gruppe mit sinkendem Organisationsgrad; Topkräften gelingen Spitzengehälter, die Masse verdient eher schlecht; Staat muss mit Mindestlöhnen eingreifen
Vertragstyp Stabil, langfristig Instabil, kurz-/mittelfristig Instabil, kurz-/mittelfristig
Government
Beziehung zwischen Wirtschaft und Politik Dirigistisch, korporatistisch Multinationale Unternehmen zunehmend mächtiger als Staaten Multinationale Unternehmen zunehmend mächtiger als Staaten
Regulierung Zunehmende Regulierung, vor allem Sozialstandards aber auch Arbeitssicherheit Verbraucherschutz tritt zunehmend in den Vordergrund Verbraucherschutz tritt zunehmend in den Vordergrund
Quelle: angelehnt an Benbya und Belbaly (2002).

Wie man sieht, sind die Postulate der New Economy aus den 1990ern/2000ern und der Industrie 4.0/Digitalisierungsära sehr ähnlich. Bei aller Wichtigkeit der Digitalisierung: es ist gerechtfertigt und auch notwendig, großen Ankündigungen mit gesunder Skepsis zu begegnen. Die Verkäufer der New Economy konnten nur wenig halten – man muss Ergebnisse statt Visionen einfordern und darf sich keinen alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen lassen.

Dennoch gibt es einige interessante Unterschiede zwischen der New Economy und der Industrie 4.0, denn in den letzten zwanzig Jahren ist technisch viel passiert. Ein entscheidender Punkt dürfte dabei die Echtzeitfähigkeit sein. Vor zwanzig Jahren gab es immer einen Verzug zwischen der Entstehung einer Information, ihrer Verarbeitung und der Reaktion. Daten wurden am Ort der Entstehung auf einem Speicher gesammelt, nach einer bestimmten Zeit ausgelesen, dann auf Papier oder elektronisch von einem Portal aus an eine andere Stelle übertragen, die die Auswertung der Daten übernahm und dann eine Reaktion festlegte. Trotz Internet gab es also immer diesen Verzug, aber die Leistungsgrenzen der Datenfernübertragung haben sich seither verschoben. Heute werden die Daten von einem Sensor in Echtzeit an eine Überwachungsstelle übertragen, die auch weit weg sein kann, und ein sofortiges Eingreifen ist möglich, sogar eine mechanische, zum Beispiel durch Aktuatoren. Das Internet der 1990er/2000er beschleunigte die Kommunikation – das Internet und weitere Technologien der 2010er/2020er erlauben Echtzeit-Steuerung ohne Verzögerung. Und es gibt noch weitere kleine und große Revolutionen, aber dennoch bleibt eine technische Spielerei kein Selbstzweck – sie muss eine Verbesserung darstellen. Und wie diese identifiziert werden kann, behandelt der folgende Abschnitt.

II. Es gibt unzählige Optimierungskonzepte in der Betriebswirtschaft. Sich bestimmte herauszupicken ist gewissermaßen ein Akt der Willkür, daher ist der hier gewählte Ansatz keinesfalls der einzig gültige. Die folgende Abhandlung wird aber zeigen, dass Kaizen sehr gut passt, um den Mehrwert der Digitalisierung fassbar zu machen.

Kaizen ist Japanisch und bedeutet grob übersetzt „Wandel zur Verbesserung”. Es ist Teil des Lean-Methodenwerkzeugkastens und strebt die Vermeidung von Verschwendung an. Die sieben (klassischen) Verschwendungen, die durch das Akronym TIMWOOD einprägsam sind[2], lauten:

T Transport Transport
I Inventory Bestände
M Motion Bewegung
W Waiting Warten
O Over-production Überproduktion
O Over-engineering Falsche Technologie/Prozesse
D Defects Ausschuss/Nacharbeit

Wird ein Investitionsantrag gestellt, kann man anhand dieses Schemas hinterfragen, was der Mehrwert des Digitalisierungsvorhabens ist, das heißt welche Verschwendung durch sie reduziert wird. Und die Reduzierung der Verschwendung ist in der Regel immer auch als Geldwert darstellbar: Einsparung von Material, Flächen, Arbeitszeit, Transporten und Beständen. Beispielsweise werden durch die bedarfsorientierte, lokale Fertigung mittels 3D-Druck die Verschwendungen Lagerung, Überproduktion und Transport reduziert. Durch die Analyse von Big Data und künstlicher Intelligenz lässt sich gegebenenfalls der Marktbedarf besser vorhersagen und auch dadurch kann Überproduktion und Lagerung vermieden werden.

Die wichtigsten digitalen Technologien derzeit sind:

  • schnelles, leistungsfähiges und mobiles drahtloses Internet
  • mobile Anwendungen
  • Sensoren (smarte Technologien)
  • RTLS (Real Time Location Systems = Echtzeitlokalisierungssysteme)
  • Plattformen (wie AirBnB oder Uber)
  • Künstliche Intelligenz
  • Big Data (d.h. unstrukturierte Massendaten)
  • Hochleistungsprozessoren und -speicher
  • 3D-Druck (additive Fertigung)
  • erweiterte und virtuelle Realität
  • Roboter/AGV (Automated Guided Vehicles = Fahrerlose Fahrzeuge)

Diese Technologien besitzen das Potential, Verschwendungen zu reduzieren oder sogar zu eliminieren, vor allem wenn man sie kombiniert. Sie machen das Unternehmen dadurch effizienter. Natürlich besitzen sie auch das Potential, die Qualität zu erhöhen, die Kunden sowohl durch den Faktor Zeit (schnell/pünktlich), Flexibilität (Maßanfertigung), Transparenz (nachverfolgbare Produktion/Lieferung), Verlässlichkeit (erwartete Güte) sowie Preiswertigkeit (Preis/Leistung) beurteilen.

In der Innenperspektive können digitale Technologien die Effizienz steigern (Verschwendung reduzieren) und die Qualität erhöhen – aber alles was das Unternehmen selbst verbessert, kann man auch als Produkt verkaufen. Und hierfür kommt das zweite Konzept ins Spiel, um den Mehrwert der Digitalisierung zu strukturieren: die altbekannten vier P des Marketing (4P): Product (Produkt), Promotion (Werbung), Place (Distribution) und Price (Preisgestaltung). Eine aus unterschiedlichen digitalen Technologien arrangierte Lösung kann aber nicht nur zum Produkt werden, sondern sie können auch den Marketing-Mix an sich verändern. Die Verkaufskanäle verlagern sich zunehmend in die virtuelle Sphäre und die Auswertung von Big Data optimiert nicht nur die Bedarfsplanung, sondern hilft auch zu ermitteln, was die Kunden wünschen und wie viel sie dafür zu zahlen bereit sind, also die Ermittlung von Preisen auf tagesaktueller Basis.

Kaizen und den 4P geben also das Schema vor, mit dem man Digitalisierungsvorhaben beantragen oder prüfen kann. Dabei werden unterschiedliche Fragen beantwortet: welche Effizienzsteigerung zu erwarten ist, also welche Verschwendungen wird reduziert und in welchem Umfang? Welche Qualitätssteigerung wird erzielt (z.B. Zeit/Flexibilität/Transparenz/Verlässlichkeit/Preiswertigkeit) und zu welchen Preis-/Mengen-Effekten führt dies? Und/oder welche Änderung am Marketing-Mix lässt sich durch das Vorhaben erzeugen?

Zwischen der Ebene der digitalen Techniken (3D-Druck, Internet, mobile Anwendungen usw.) und der positiven Wirkung (Verschwendungsreduzierung, Qualitätssteigerung und/oder Marketing-Mix-Änderung) lässt sich noch eine konzeptionelle Zwischenebene einziehen. Sie ist für das Formulieren eines Antrags auf Finanzmittel nicht notwendig, aber sie trägt zum Verständnis bei, was technische Hilfsmittel eigentlich machen: sie verleihen dem Unternehmen Fähigkeiten. Nach Lom, Přibyl and Svítek (2016) sind diese Fähigkeiten oder Konstruktionsprinzipien der Digitalisierung unter anderem Dezentralisierung (vor allem durch 3D-Druck, smarte/mobile Anwendungen und Internet), Echtzeitfähigkeit (mobile Anwendungen, Sensorik und schnelles Internet), Virtualisierung (Plattformen, Clouds), Modularität (Plug-and-Play-Lösungen), Zusammenarbeitsfähigkeit (Interoperabilität vor allem durch Plattformen). Hinzu kommen noch die steigende Prognosefähigkeit, also die Fähigkeit den Bedarf und das Verhalten von Kunden quantitativ und qualitativ immer besser vorherzusagen (Big Data, Software, Künstliche Intelligenz, Speicher, Prozessoren) und Selbstorganisation (also zunehmend autonome, selbststeuernde Organisationen und Maschinen). Diese Zwischenebene ist – wie erklärt – für den Business Case nicht notwendig. Sie ist vor allem aus organisationswissenschaftlicher Sicht interessant und sie verweist auf eine Forschungsrichtung die von Teece et al. (1997) angestoßen wurde, nämlich die der dynamischen Fähigkeiten:

„Gegenstand dieses Theorieansatzes sind Unternehmen. Sie werden als ein Pool von Ressourcen betrachtet. Mit dem Begriff der dynamischen Fähigkeiten (Dynamic Capabillities) wird das Potential von Unternehmen beschrieben, sich an veränderte Bedingungen anzupassen, Chancen zu nutzen und Organisationsprobleme systematisch zu lösen, indem vorhandene interne Ressourcen verändert und weiterentwickelt, gleichzeitig jedoch externe Ressourcen gekonnt integriert werden. Im Idealfall gelingt es Unternehmen, die über dynamische Fähigkeiten verfügen und diese nutzen, sich innovativ veränderten Umweltbedingungen schneller anzupassen und somit strategische Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Indem nicht allein die vorhandenen Ressourcen effektiv genutzt, sondern gleichzeitig externe Ressourcen gekonnt integriert werden, können Unternehmen Marktentwicklungen antizipieren, Optionen erkennen, innovative Produkte entwickeln und neue Geschäftsfelder erschließen.“[3]

Der Ansatz der dynamischen Fähigkeiten, der sich aus Wernerfelts Ressourcentheorie (Resource-Based View) entwickelte, hat über die Jahre an Relevanz verloren, weil es nicht gelungen ist, die Grundlagen und Hebel der Dynamik wissenschaftlich herauszuarbeiten (vgl. Arend und Bromiley, 2009 sowie Gremme und Wohlgemuth, 2017), also wo diese dynamischen Fähigkeiten in der Organisation verortet sind. Die Digitalisierung könnte diese Lücke schließen: gerade die oben genannten Fähigkeiten wie Prognose, Echtzeit, Modularität und Zusammenarbeit, die durch die digitalen Technologien entstehen, konstituieren die dynamischen Fähigkeiten, sowohl in der Mikro- wie auch Makroperspektive. Immerhin: der klassische Anpassungsprozess zwischen einer Veränderung entweder im Marktbedarf oder des eigenen Angebots an den Markt brauchte Zeit, denn der Markt musste analysiert, Tests durchgeführt, interne Entscheidungen vorbereitet, die Fertigung, der Vertrieb und die Werbung umgestellt werden. Die digitalen Technologien erlauben diesen früher manchmal Jahre brauchenden Prozess in wenige Minuten zu verkürzen, was letztendlich im Konzept der „batch size one“ seinen Höhepunkt findet[4]: die Prognosefähigkeit ahnt und stellt den Kunden bereits geeignete Konfigurationsmöglichkeiten zur Verfügung und die Echtzeitfähigkeit sowie 3D-Druck erlauben sofortige Konfiguration am Ort des Bedarfs und die augenblickliche Fertigung. Man kann sagen: das Niveau der Digitalisierung beschreibt auch das Niveau der dynamischen Fähigkeiten. Mithilfe der Digitalisierung entsteht tatsächlich das sich laufend rekonfigurierende Unternehmen.

Das folgende Schaubild fasst das in diesem Abschnitt II Erörterte zusammen:

III. Das Beispiel einer Frachtenbörse schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: zum einen zeigt es den Unterschied zwischen der New Economy der 1990er/2000er und der Digitalisierung/Industrie 4.0 heute, außerdem lässt sich der Mehrwert mithilfe von Kaizen gut erklären und wie die Kombination aus vielen digitalen Technologien diesen Mehrwert erzeugt. Die Frachtenbörse der 2000er ist ein elektronisches schwarzes Brett auf dem Ladung nach Laderaum sucht. Der Verlader stellt eine Ladung ein, beschreibt wie viel, wann und wo es abzuholen und abzuliefern ist; ein Frachtführer oder Spediteur reagiert darauf und macht ein Angebot per Fax, telefonisch oder per E-Mail. Die Dynamik dieser Frachtenbörse ist eingeschränkt, denn ist der LKW losgefahren, dann braucht es schon eine Person, die die Frachtenbörse laufend überwacht und blitzschnell reagiert, um noch etwas auf diesen zu bekommen. Erkennt diese, dass ein neuer Frachtenbörseneintrag auf einen bereits fahrenden LKW passen könnte, dann muss er den Fahrer anrufen („Wo bist Du gerade?“) und mit dem Verlader sprechen und beide zusammenbringen. In der Praxis geht das oft nicht einmal, denn der Disponent hat nicht die Zeit, laufend die Frachtenbörsen zu kontrollieren, weil er im Tagesgeschäft noch andere Aufgaben hat. Und so fahren in Deutschland die LKWs im Durchschnitt halbleer durchs Land – so schlecht sieht der so genannte load factor aus und in vielen anderen Ländern noch schlechter[5]. Es liegt also eine erhebliche Verschwendung durch Transport und Lagerung vor.

Mit der Digitalisierung verändern sich aber die Möglichkeiten erheblich: Frachtenbörsen können „dynamisch“ werden. Hierzu benötigt es eine Verbindung aus vielen digitalen Technologien wie zum Beispiel Echtzeitlokalisierungssysteme (RTLS), mobile Anwendungen, Sensorik, Plattformen, Internet, Big Data und KI. Eine Plattform, also eine Frachtenbörse, bringt Frachtführer und Verlader zusammen. Sensorik und RTLS auf dem LKW zeigen an, wo dieser gerade ist und wie der Beladungszustand ist, also welche freie Kapazität der LKW gerade hat. Nun stellt der Verlader eine Fracht ein, mit allen Daten, die die Plattform benötigt: Maße, Gewichte, Adressen, Lieferzeitpunkt und besondere Hinweise. Nun kann die Plattform Verlader und sogar direkt den Fahrer zusammenbringen: noch während der Fahrt erhalten die Beteiligten die Nachricht, dass ein geeigneter LKW in der Nähe oder auf dem Weg ist und mit keinem oder nur geringem Umweg die Ladung aufnehmen kann. Außerdem wurde geprüft, ob die Termine der bereits „an Bord“ befindlichen Ladung trotz des ungeplanten Stopps eingehalten werden können und die neue Fracht gegen kein Zusammenladeverbot verstößt. Per Knopfdruck kann der Auftrag angenommen werden, denn mittlerweile gibt es Plattformen, die aufgrund der vorhandenen Selbstkosten- und Auslastungsdaten bereits ein Preisangebot unterbreiten, das heißt der Fahrer, Frachtführer oder Spediteur müssen nicht einmal mehr ein gesondertes Angebot erstellen. Vor allem für Einzelunternehmer, die noch selbst am Steuer sitzen, ist das eine erhebliche Vereinfachung. Eine Art Uber für die Logistik.

Big data und KI sind notwendig, um eine hohe Planungsgüte für die Kalkulation und die Tour zu erreichen: es gilt Wartezeiten, Fahrtzeiten und Verladezeiten zu antizipieren und die Plattform lernt aus den vielen Transaktionen. Manchmal ist aber die beste Planung nicht ausreichend und es benötigt weiterhin Echtzeitkommunikation wie Statusänderungen, damit der Fahrer auf dem Laufenden bleibt. Das Mobiltelefon und eine entsprechende App, die teilweise auch schon auf dem Bordcomputer des LKWs vorinstalliert sind, helfen die klassische persönliche Kommunikation aufrechtzuerhalten. Natürlich braucht es am Ende ein schnelles und drahtloses Internet, damit diese Form der dynamischen Frachtenbörse funktionieren kann. Wenn solche Plattformen einmal Standard sind, wird sich dies nicht nur durch eine Reduzierung der Verschwendung also eine Effizienzsteigerung bemerkbar machen, sondern auch auf das Verkehrsaufkommen. Eine höhere Laderaumauslastung wird das Verkehrsaufkommen und damit auch die Emissionsbelastung senken und hat damit einen gesamtgesellschaftlichen Vorteil.

Die dynamische Frachtenbörse demonstriert also dem Mehrwert durch den kombinierten Einsatz vieler digitaler Technologien.

Schlusswort

Dieser Beitrag ist kein Plädoyer gegen Visionen, sondern gegen falsche Versprechen, Unklarheit oder „tote Pferde“. Das kürzliche Ende von Streetscooter und der begleitende Kommentar von Prof. Schuh[6] gibt zu denken, aber man darf das kritische Hinterfragen einer Idee nicht als kleinlich missverstehen. Wirtschaften heißt, den Mangel zu bewältigen und Ressourcen optimal einzusetzen. Das oben skizzierte Prüfschema auf Basis Kaizen/4P ist daher nicht dazu da, Ideen zu unterdrücken – es soll eine gemeinsame Sprache zwischen Technikern und Betriebswirten herstellen. Somit hilft es auch den Technikern, die eine gute Idee haben und innerbetrieblich ein Budget beantragen oder mögliche Investoren überzeugen wollen, eine kaufmännische Argumentation zu entwickeln.

Literaturverzeichnis

Arend, R. und Bromiley, P. (2009). Assessing the dynamic capabilities view: spare change, everyone? Strategic Organization, 7(1), 75-90.

Benbya, H. und Belbaly, N. (2002). THE “NEW” NEW ECONOMY: LESSONS LEARNED FROM THE BURST OF DOT-COM’S BUBBLE, DISPELLING THE MYTHS OF THE NEW ECONOMY. Journal of E-Business, 2, 2, 1-11.

Gremme, K.-M. und Wohlgemut, V. (2017). Dynamic capabilities: a systematic literature review of theory and practice. European Journal of Management Issues, 25, 1, 30-35.

Hausberg, J.P., Liere-Netheler, K., Packmohr, S. et al. (2019). Research streams on digital transformation from a holistic business perspective: a systematic literature review and citation network analysis. Journal of Business Economics, 89, 931-963.

Lom, M., Přibyl, O. und Svítek, M. (2016). Industry 4.0 as a part of smart cities. Smart Cities Symposium Prague (SCSP), May 2016, 1-6.

McLennan, A. (2011). Strategy Execution: Translating strategy into action in complex organizations. London and New York: Routledge.

Schuhmann, A. (2012). Der Traum vom perfekten Unternehmen. Die Computerisierung der Arbeitswelt in der Bundesrepublik Deutschland (1950er- bis 1980er-Jahre). Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 9, 2, 231-256.

Teece, D., Pisano, G. und Shuen, A. (1997).  Dynamic capabilities and strategic management. Strategic Management Journal, 18, 7, 509-533.

[1] https://www.managers.org.uk/insights/news/2015/october/how-to-cut-the-jargon-and-write-an-inspirational-management-memo (Feb 26, 2020).

[2] https://www.sixsigmablackbelt.de/7-arten-der-verschwendung-muda/ (Aufruf: 20.02.20).

[3] https://www.akademie-management.de/service/glossar/glossarordner-mit-d/dynamic-capabillities-ansatz-teece-et-al.- (Aufruf: 05.03.20).

[4] https://www.ipt.fraunhofer.de/en/trends/industrie40/batchsizeone.html (Aufruf: 20.02.20).

[5] https://www.eea.europa.eu/data-and-maps/indicators/load-factors-for-freight-transport/load-factors-for-freight-transport-1 (Aufruf: 05.03.20).

[6] https://www.aachener-nachrichten.de/wirtschaft/das-streetscooter-ende-ist-ein-armutszeugnis-fuer-deutschland_aid-49328225 (Aufruf: 04.03.2020).

Sascha Reimann absolvierte ein Studium der Betriebswirtschaftslehre in Deutschland (Hamburg) und Großbritannien (Durham, Cambridge, Edinburgh). Lean Master und PMI-zertifizierter Project und Program Management Professional (PMP, PgMP). Tätigkeit bei Siemens, DHL und Airbus; schreibt in Digitale Welt als freiberuflicher Autor.

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