Eine Digitale Welt für Menschen

Von   Prof. Dr. Simon Nestler   |  Professor für Mensch-Computer-Interaktion   |  Technische Hochschule Ingolstadt
7. Mai 2021

Digitalisierung kann nur dann einen praktischen Nutzen bringen, wenn Sie für Menschen gestaltet wird – und dabei insbesondere den konkreten Nutzungskontext berücksichtigt. Ein primär an Funktionalitäten ausgerichteter Beschaffungsprozess führt gegenwärtig zu grundlegenden Defiziten der eingesetzten Software in Hinblick auf das Themenfeld Usability und User Experience (UUX). Im Ergebnis wird in Unternehmen und Verwaltungen gegenwärtig häufig nicht diejenigen Software beschafft, die über die höchste Gebrauchstauglichkeit und die wenigsten Nutzungsbarrieren verfügt. Gutachten leisten einen unverzichtbaren Beitrag, um mittelfristig eine an den Bedürfnissen und Erfordernissen der Menschen ausgerichtete Digitalisierungsstrategie zu etablieren. Eine Quantifizierung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses sowie der Dimensionen der Gebrauchstauglichkeit ist im Kontext der digitalen Transformation dabei die Grundlage für einen menschzentrierten Softwarebeschaffungsprozess. Die Methoden der menschzentrierten Gestaltung machen die hohe Komplexität handhabbar, ohne länger von impliziten und verdeckten Hypothesen abhängig zu sein.

Einleitung

Ich weiß nicht, ob Sie das kennen: Ich saß neulich mit meiner Tochter mal wieder an ihrem Basteltisch. Meine Finger waren zu groß für die Schere, meine Beine passten nicht unter den Tisch und auch mein Gesäß fand auf dem Stuhl nur teilweise Platz. Ich hatte das bedrückende Gefühl, als würde ich mich gerade in einer Welt befinden, die nicht für mich gestaltet wurde. Ich war in einer Welt, die aufgrund ihrer Gestaltung bestimmte Menschen – in diesem Fall Erwachsene – exkludiert. Gleichzeitig war ich aber auch in einer Welt, die erst aufgrund ihrer besonderen Gestaltung bestimmte Interaktionen für andere Menschen – in diesem Fall Kinder – überhaupt erst möglich macht.

In diesem Magazin geht es um Digitalisierung – nicht um Interior Design. Doch bleiben wir noch einen kurzen Moment in der Welt des Physischen; denn diese anhand des anschaulichen Beispiels skizzierten exkludierenden Aspekte finden sich in nahezu jeder Gestaltung. Jedes Design basiert auf expliziten und impliziten Hypothesen – im konkreten Fall von Stühlen basiert das Design auf den Kenntnissen und Annahmen aus der Anthropometrie, auf Überlegungen zu der intendierten Nutzung, auf einer Festlegung der Umgebung und auf Gedanken in Bezug auf die zum Einsatz kommenden Werkzeuge:

  • Verändern sich die primär fokussierten Nutzergruppen, verändert sich das Artefakt. Ein Stuhl für Senioren unterscheidet sich von einem Kinderstuhl.
  • Verändern sich die unterstützten Arbeitsaufgaben, verändert sich das Artefakt. Ihr Bürostuhl unterscheidet sich – hoffentlich auch in Zeiten von Corona – signifikant von einem Esszimmerstuhl.
  • Verändert sich die Umgebung, so verändert sich das Artefakt gleichermaßen. Ein Gartenstuhl unterscheidet sich von einem Stuhl in der Ankleide.
  • Verändert sich die verwendeten Werkzeuge, verändert sich das Artefakt. Stühle für Basteltische erfüllen andere Anforderungen als Hocker für eine Werkbank.

Diese vier Dimensionen (Nutzende, Aufgaben, Umgebung und Werkzeug) werden in der DIN EN ISO 9241 als Nutzungskontext bezeichnet. Erst der klare Fokus gibt dem Design eine Richtung. Erst durch diesen Fokus kann Design überhaupt effektiv, effizient und zufriedenstellend zur Problemlösung beitragen. Doch trotz dieses Fokus bleiben physische Artefakte dabei stets nutzungsoffen – Sie können auch über die intendierte Nutzung hinaus recht spannende Dinge mit Stühlen anstellen: Sie steigen auf den Stuhl, um eine Glühbirne zu wechseln, Sie legen auf dem Stuhl im Eingang Ihre Post ab, Sie hängen über die Lehne des Stuhls im Schlafzimmer Ihre Kleidung, Sie verwenden einen zweiten Stuhl als Fußablage, Sie verwenden drei bis vier Stühle als Schlafgelegenheit oder Sie bauen aus mehreren Stühlen eine Höhle für Ihre Kinder. Auch wenn sich zwei Stühle nun in ihrer Eignung für ihre primäre Aufgabe gleichen, so können sie sich in Bezug auf die Nutzungsoffenheit dennoch signifikant unterscheiden.

Die Digitale Welt

Was hat das alles nun mit Digitalisierung zu tun? Eine ganze Menge: Es sind Menschen, die auf den Stühlen sitzen und es sind Menschen, die von der Digitalisierung profitieren – oder von ihr geschädigt werden. Die Grundprinzipien der Ergonomie gelten dementsprechend gleichermaßen für alle physischen und digitalen Objekte, mit denen wir Menschen in unserem Alltag interagieren. Ist Ihnen bei unserer Analyse der Stühle gerade etwas aufgefallen? Wir haben sehr wenig über die Materialien der Stühle, den Aufbau, die Qualität oder den Fertigungsprozess gesprochen. Und trotzdem sind wir sehr gut in der Lage, auf Basis der bisherigen Überlegungen die Gebrauchstauglichkeit eines Stuhls zu bewerten. Wie uns das gelingt? Wir schauen uns den Stuhl an – dadurch können wir bereits offensichtlich ungeeignete Stühle ausschließen. Wir setzen uns auf den Stuhl, um die anthropometrische Passgenauigkeit zu prüfen. Wir testen den Stuhl im passenden Nutzungskontext: Wir tippen – im neuen Bürostuhl sitzend – auf einer imaginären und realen Tastatur oder lehnen uns testweise zurück, wie wir es im Alltag vielleicht bei Telefonaten tun würden.

Denn erst anhand der realen Nutzung lässt sich die Gebrauchstauglichkeit eines Stuhls abschließend bewerten. Dieses Vorgehen hat sich in so vielen Bereichen bewährt: Matratzen bieten eine lange Rückgabegarantie – denn die Hersteller wissen, dass man auf einer Matratze einige Nächte liegen muss, um sie fundiert bewerten zu können. Die hohe Menge an Retouren beim Online-Shopping von Bekleidung und Schuhen zeigt: Erst beim Anprobieren und Ausprobieren stellt sich heraus, was uns wirklich passt. Frisuren sehen am eigenen Kopf immer anders aus als im Hochglanzmagazin, doch dann ist es leider schon zu spät. Und es hat zudem auch einen Grund, warum jeder geschäftstüchtige Autohändler Ihnen eine Probefahrt anbieten wird.

Warum kaufen dann im Jahr 2021 Unternehmen und Verwaltungen trotzdem immer noch Software, von deren Gebrauchstauglichkeit sie sich zuvor nicht gründlich überzeugt haben? Stellen Sie sich vor, Sie würden diesen Beschaffungsprozess auf den privaten Autokauf übertragen: Die Kinder wünschen sich hinten getönte Scheiben, der Hund braucht einen ausreichend großen Kofferraum, die Partnerin wünscht sich Sitzheizung und Sie brauchen ein Navigationssystem und einen Tempomat. Nun gehen Sie mit dieser Liste an funktionalen Anforderungen von Autohaus zu Autohaus und holen diverse Angebote ein. BMW empfiehlt Ihnen vielleicht einen kleinen SUV, bei Audi rät man Ihnen zu einem Kombi, bei VW bekommen Sie einen Van, bei Opel einen Minibus, bei Mercedes eine Limousine und bei Porsche einen großen SUV. Wie können Sie hier nun eine fundierte Entscheidung treffen?

Die Komplexität des Digitalen

Solche im B2B-Kontext üblichen Beschaffungsprozesses mit mehreren Stakeholdern führen unweigerlich zu unvergleichbaren Alternativen. In der Welt des Physischen gelingt es uns unter Umständen noch, durch weitere Anforderungen eine bessere Vergleichbarkeit herzustellen. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass diese zusätzlichen Anforderungen – ähnlich wie bei der Gestaltung eines Stuhls – lediglich auf vagen Hypothesen basieren. Sie könnten nun beispielsweise spezifizieren:

  • Wir wollen keinen SUV, weil er zu viel Kraftstoff verbraucht.
  • Wir wollen keinen Van, weil dieser nicht wendig genug ist.
  • Wir wollen keinen Opel, weil er nicht unserem Qualitätsanspruch entspricht.
  • Wir wollen keinen Porsche, weil er uns zu teuer ist.
  • Wir wollen keinen Kombi, weil der Kofferraum zu klein für einen Hund ist.

Nach diesen – zugegebenermaßen etwas überzogenen – Einschränkungen fährt Ihre Familie dann mit einer Limousine von Mercedes glücklich vom Hof; nur Ihren Hund können Sie in Ihrem neuen Auto leider nicht mitnehmen. Haben Sie eine gute Entscheidung getroffen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Haben Sie eine fachlich fundierte Entscheidung getroffen? Vermutlich auch nicht, denn eine Limousine haben auch all die anderen Hersteller im Programm – und sogar noch Fahrzeuge, die besser zu Ihren Bedürfnissen bzw. denen Ihres Hundes passen würden. Denn viele Ihrer künstlichen Einschränkungen waren zudem vermutlich auch schlicht und ergreifend falsch und haben den Prozess nicht vereinfacht, sondern unnötig verkompliziert.

Warum agieren wir im Kontext der Digitalisierung bei der Beschaffung von Software trotzdem genau nach diesem Muster? Eine zentrale Ursache für diese widersprüchliche Herangehensweise ist die hohe Komplexität. Doch wenn wir schon bei der Fahrzeugauswahl an der Komplexität scheitern, wie soll uns dann die Auswahl der besten Softwarelösung gelingen? Hohe Komplexität macht uns immer anfällig für verzerrende Vereinfachungen: Je größer unsere Auswahlmöglichkeiten sind, umso eher greifen wir auf Bewährtes zurück. Bei dem Autokauf werden wir daher vermutlich gar keinen ergebnisoffenen Prozess starten – sondern uns bereits im Vorfeld entweder auf bestimmte Marken oder auf bestimmte Fahrzeugvarianten beschränken.

In der physischen Welt leiden wir unter den Folgen des Wohlstandes: Es gibt zu viele Alternativen, die unsere (ursprünglichen) Anforderungen erfüllen. In der Digitalisierung kämpfen viele Unternehmen und Verwaltungen hingegen mit dem gegenteiligen Phänomen. Häufig ist zu hören, dass ein Insistieren auf hohen Standards und Anforderungen in Bezug auf Gebrauchstauglichkeit und Barrierefreiheit dazu führen würde, dass keine der auf dem Markt angebotenen Lösungen mehr in die engere Auswahl gelangen würde.

Der Preis der Gebrauchstauglichkeit

Diese Beobachtung ist jedoch lediglich eine Momentaufnahme. Nachdem für deutsche Behörden ab Juni 2021 die Barrierefreiheit der Fachverfahren obligatorisch ist und auf Unternehmen ab 2025 mit dem European Accessibility Act (EAA) ebenfalls weitreichende Verpflichtungen zukommen, wird sich der Markt zwangsläufig wandeln müssen. Es wird in absehbarer Zukunft auch in der digitalen Welt keinen Bedarf mehr für Software mit unzureichender Gebrauchstauglichkeit und eingeschränkter Barrierefreiheit geben.

Doch ungeachtet der rechtlichen Verpflichtungen in Bezug auf Usability und User Experience (UUX) – die Arbeitgeber ja bereits seit 2004 aufgrund des Anhang 6.5 der ArbStättV einhalten müssen – bietet gebrauchstaugliche Software zudem auch einen Wettbewerbsvorteil. Zumindest dann, wenn es Auftraggebern in Zukunft besser gelingt, den Prozess der Beschaffung von Software an den Erfordernissen aus der Praxis auszurichten. Statt die Softwareauswahl auf einen Abgleich von Features und Anforderungen zu beschränken, müssen die zukünftigen Nutzenden zur digitalen Probefahrt einsteigen. Die quantitativ und qualitativ im Rahmen dieser Evaluation gesammelten Erkenntnisse müssen maßgeblichen Einfluss auf die Kaufentscheidung haben. Insbesondere die betrieblichen und behördlichen Interessensvertretungen können an dieser Stelle ihren Einfluss nutzen, um auf eine stärkere Gewichtung dieser Aspekte hinzuwirken.

Gebrauchstauglichkeit besteht dabei gemäß DIN EN ISO 9241-11 aus den drei Dimensionen Effektivität, Effizienz und Zufriedenstellung:

  • Mit einer gebrauchsuntauglichen Software können Sie im Arbeitsalltag nicht die Aufgaben lösen, für die Sie die Software beschafft haben (fehlende Effektivität).
  • Bei Verwendung einer gebrauchsuntauglichen Software sorgt die Bearbeitung der Aufgaben für einen unverhältnismäßig hohen Zeitaufwand (fehlende Effizienz).
  • Gebrauchsuntaugliche Software führt dazu, dass während des Arbeitsalltags zu hohe kognitive und psychische Belastungen auftreten (fehlende Zufriedenstellung).

Im Rahmen der Barrierefreiheit wird dabei zusätzlich gefordert, dass diese Kriterien auch dann erfüllt werden, wenn die Nutzenden individuelle Einschränkungen haben. Dabei ist das gesamte Spektrum an möglichen Beeinträchtigungen und Behinderungen abzudecken. Die während des Designs der Lösungen implizit vermuteten Hypothesen müssen dazu offengelegt und adressiert werden: So darf beispielsweise nicht davon ausgegangen werden, dass die Nutzenden sehen können, dass sie eine Maus bedienen können, dass sie hören können oder dass sie über ausreichende kognitive Kapazitäten verfügen.

Im Sinne des Design for all entsteht durch die Kombination von Gebrauchstauglichkeit und Barrierefreiheit eine für alle Menschen nutzbare Software. Barrierefreiheit ist komplexer als Gebrauchstauglichkeit, da sie sich nicht nur auf den durchschnittlichen Nutzenden fokussiert. Gebrauchstauglichkeit ist gleichzeitig auch komplexer als Barrierefreiheit, da sie sich nicht nur um die Zugänglichkeit, sondern auch mit der Nutzbarkeit beschäftigt. Die beiden Themen sind aufgrund dieser Abhängigkeiten und Wechselwirkungen untrennbar miteinander verknüpft. Es ist nicht sinnvoll, nur Menschen mit Einschränkungen in den Blick zu nehmen (zu einseitiger Fokus auf Barrierefreiheit). Gleichermaßen macht es jedoch auch wenig Sinn, die Effektivität, Effizienz und Zufriedenstellung nur mit Menschen ohne Einschränkungen zu untersuchen (zu einseitiger Fokus auf Gebrauchstauglichkeit).

Der Wert der Software für eine Behörde oder ein Unternehmen ergibt sich aus ihrem praktischen Nutzen. Die Quantifizierung des Nutzens ist die Grundlage, um die Angemessenheit der veranschlagten Kosten zu bewerten. Es ist dabei keineswegs eine triviale Herausforderung, eine Ausschreibung so zu gestalten, dass die Gebrauchstauglichkeit die dafür notwendige, maßgebliche Rolle erhält.

Dazu ein kurzes Praxisbeispiel:

Wir nehmen an, dass mit einer im Moment eingesetzten Software A die Abarbeitung eines Arbeitsprozesses durchschnittlich drei Stunden dauert, während der gleiche Prozess in Software B nur einen Zeitaufwand von 30 Minuten benötigt. Die Software wird in unserem Beispiel ferner von insgesamt 50 Sachbearbeiter:innen genutzt, der analysierte Arbeitsprozess macht im Schnitt 60% der täglichen Arbeit aus. Wenn nun für Software A Lizenzkosten i.H.v. von 200 kEUR anfallen, ist dann trotz Lizenzkosten i.H.v. einer Million ein Wechsel zu für Software B sinnvoll? In Bezug auf Effektivität und Zufriedenstellung gibt es dabei (der Einfachheit halber) keine signifikanten Unterschiede.

Die Antwort scheint zunächst offensichtlich: Der Nutzen der Software B ist sechsmal so hoch wie der Nutzen von Software A. Die Kosten sind jedoch nur fünfmal so hoch, Software B ist also für das Unternehmen sinnvoller als Software A.

Aufgabe gelöst? Vielleicht haben Sie folgenden Aspekt bemerkt: Wir bereits implizit angenommen, dass der Nutzen von Software A deren Kosten übersteigt. Doch ist diese Annahme überhaupt korrekt? Die Daten sind hier unvollständig. Wir sehen jedoch, dass mit Software A ein Aufwand in der Äquivalenz von 30 Vollzeitstellen anfällt. Mit Software B fällt ein Gesamtaufwand von 5 Vollzeitstellen an. Es stehen damit 25 Vollzeitstellen für andere Tätigkeiten und Aufgabenbereiche zur Verfügung. Wenn die Kosten für jede der Stellen im Schnitt mindestens 40 kEUR betragen, so bringt der Einsatz von Software B auf jeden Fall eine Verbesserung.

Wir sollten also auch aus dieser Perspektive zu Software B wechseln. Sind Sie sicher? Oder versteckt sich in dem Beispiel noch eine weitere gefährliche Hypothese? Leider ja: Wir nehmen nämlich implizit an, dass der Softwareeinsatz per se zu einer Effizienzsteigerung führt. Dies ist jedoch nicht immer der Fall; es ist prinzipiell durchaus denkbar, dass sich der Prozess ohne Software in einer Stunde erledigen lässt. Während der analoge Prozess einen Aufwand von 10 Vollzeitäquivalenten verursacht, liegt der Aufwand mit Software bei 5 Vollzeitäquivalenten. Nun müssten die Sachbearbeiter:innen also schon jährliche Personalkosten von 200 kEUR verursachen, damit sich der Einsatz in diesem Beispiel aus wirtschaftlicher Sicht tatsächlich lohnt.

Wer nicht weiß, wie hoch der Nutzen der Software ist, der kann auch deren Wert nur schwer bemessen. Während es sich beim Autokauf mitunter schwierig gestaltet, den praktischen Mehrwert von getönten Scheiben in Euro zu beziffern, ist diese Berechnung im beruflichen Umfeld vergleichsweise einfach: Effizienz schlägt sich in eingesparter Arbeitszeit nieder – und Zeit ist Geld. Auch mangelnde Effektivität lässt sich ähnlich quantifizieren: Wenn bestimmte Aufgaben aus dem Praxisalltag mit der Software nicht lösbar sind, so ist der für die work arounds erforderliche zusätzliche Arbeitsaufwand maßgeblich. Lediglich die Zufriedenstellung lässt sich schwerer monetarisieren, sie ist ein willkommener Zusatzeffekt aus der Verbesserung von Gebrauchstauglichkeit und Barrierefreiheit. Die gemessenen Effizienzsteigerungen sind somit stets zunächst eine defensive Schätzung. Eine zufriedenstellende Software führt darüber hinaus zu weiteren positiven Effekten:

  • Niedrigere Schulungskosten
  • Weniger Supportaufwand
  • Geringere Fluktuation
  • Besseres Betriebsklima
  • Reduzierte Krankheitstage

Diese Aspekte haben einen positiven Gesamteffekt auf die Effizienz des Unternehmens oder der Verwaltung. Die durch gute Gebrauchstauglichkeit und hohe Barrierefreiheit erreichbare Effizienzsteigerung fällt daher in der Praxis sogar etwas höher aus als erwartet. 

Menschengerechte Digitalisierung

Wie lässt sich das Thema UUX (Usability & User Experience) nun strategisch bei der Beschaffung und Entwicklung von Software berücksichtigen? Um das Thema ernsthaft und wirkungsvoll zu verankern, ist ein grundlegender Paradigmenwechsel unvermeidbar. Solange Gebrauchstauglichkeit und Barrierefreiheit nur ein klein wenig an Bedeutung gewinnen und schlimmstenfalls nur zwei Bullets auf einer langen Liste mit Anforderungen sind, fällt der Mehrwert enttäuschend aus. Der Beschaffungsprozess ist nicht darauf ausgelegt, dass zwei mit gewissen Prozentwerten gewichtete Aspekte einen fünffach höheren Preis rechtfertigen (siehe Praxisbeispiel). Es mag zunächst vielleicht etwas irritierend sein, dass wir diese beiden wichtigen Themen nicht mitberücksichtigen sollten. Aber es ist – vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen – die einzige Möglichkeit für eine echte Veränderung.

Denn nur wenn Gebrauchstauglichkeit und Barrierefreiheit nicht länger einen um 10% und 20% höheren Preis rechtfertigen, sondern die Bewertung stattdessen den realen Effekt auf den praktischen Nutzen abbildet, erhält das Thema bei den Softwaredienstleistern einen angemessenen Stellenwert. Denn die Erwartung an die Softwarehersteller, dass diese sich ernsthaft, fundiert und intensiv mit UUX beschäftigen ist mit hohen Investitionen verbunden. Nur eine neue Methodik für die Bewertung der Passgenauigkeit von Software kann den Markt nachhaltig und grundlegend verändern. Die Kosten für die Digitalisierung werden durch diese neue Perspektive steigen; aber dennoch übersteigt der Nutzen bei der menschgerechten Digitalisierung die Kosten.

Menschgerechte Digitalisierung kann dabei sogar fundiert belegen, dass sich das höhere Investment lohnt: Wenn im Rahmen des Beschaffungsprozesses ein (vergleichendes) UUX Gutachten der anhand der anderen Pflichtkriterien in Frage kommenden Alternativen beauftragt wird, dann kann die Software mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis beschafft werden. Bei einem solchen UUX Gutachten macht dabei nicht nur der Gutachter eine digitale Probefahrt, sondern bindet die zukünftigen Nutzenden ein. Er lässt sie einsteigen und mit den verschiedenen Lösungen die häufigsten Arbeitsaufgaben bearbeiten. Durch die Auswertung des Usability-Tests können alle drei Dimensionen der Gebrauchstauglichkeit quantifiziert werden – und darüber hinaus lassen sich im Rahmen des Nutzungsprozesses auch qualitative Aspekte erheben.

Fazit

Die Verwaltungen und Unternehmen kaufen nicht länger im übertragenen Sinne „ein Familienauto von der Stange“ – sie kaufen eine Software, welche perfekt zu den Bedürfnissen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter passt. Wenn sich zwei Unternehmen oder Behörden maßgeblich bezüglich der vier Dimensionen des Nutzungskontextes unterscheiden, dann werden sie für die gleichen Arbeitsaufgaben unterschiedliche Softwarelösungen beschaffen. Genauso wie in Seniorenwohnheimen andere Stühle stehen als in den Kindergärten, werden sich in jungen Start-ups andere Softwarelösungen etablieren als in kommunalen Verwaltungen. Daher gibt es auch leider keine Abkürzungen zu dem mit etwas zusätzlichem Aufwand verbundenen Begutachtungsprozess. Jegliche Versuche der Softwaredienstleister, durch entsprechende Zertifikate eine gute Gebrauchstauglichkeit und Barrierefreiheit der Software nachweisen zu können, sind daher leider zum Scheitern verurteilt.

Selbstverständlich sind Heuristische Evaluationen, in Bezug auf die Gebrauchstauglichkeit (beispielsweise nach Nielsen oder nach der DIN EN ISO 9241) und die Barrierefreiheit (beispielsweise nach DIN EN 301549, WCAG 2.1 oder BITV 2.0) dennoch praxisrelevant. Denn sie helfen Unternehmen dabei, bereits frühzeitig potentielle Probleme zu erkennen und zu beheben, die später unweigerlich zu einem schlechten Kosten-Nutzen-Verhältnis im Rahmen des Beschaffungsprozesses führen würden – und auch in UUX Gutachten werden Usability-Tests ja regelmäßig durch Heuristiken ergänzt. Aber Heuristiken sind nicht mehr als ein Indiz, dass sich der erhoffte Nutzen in der Praxis einstellt.

Wenn wir Gewissheit suchen, dann hilft tatsächlich nur eines: Steigen Sie ein zur digitalen Probefahrt – und passen Sie auf, dass Sie nicht mit den Knien am Tisch anstoßen. Ist Ihnen übrigens die (bewusst verzerrte) Perspektive in meinem eingangs geschilderten Beispiel aufgefallen? Nicht die Löcher der Schere waren zu klein, nein: Meine Finger waren zu groß…

 

ist seit 2011 Professor für Mensch-Computer-Interaktion; seit 2019 an der Technischen Hochschule Ingolstadt. Nebenberuflich berät er Unternehmen und öffentliche Verwaltungen mit seinen UUX Gutachten bei der Beschaffung von gebrauchstauglichen und barrierefreien Fachanwendungen.

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