Integrierte Intelligenz: Mit KI neue Kundenbedürfnisse adressieren

Von   Prof. Dr. Ulrich Lichtenthaler   |  Professor für Management und Entrepreneurship   |  International School of Management (ISM)
28. Oktober 2020

Viele Unternehmen sehen künstliche Intelligenz (KI) als hoch relevant für ihre künftige Geschäftstätigkeit an, doch die tatsächliche Umsetzung bleibt weit hinter der wahrgenommenen Bedeutung zurück. Gerade auch Marketing-Verantwortliche können eine zentrale Rolle einnehmen, um diese Defizite zu vermeiden. Insbesondere sollten KI-basierte Innovationen mit einem klaren Fokus auf neuen Kundenbedürfnissen entwickelt werden, um so die Wachstumschancen durch ‚Integrierte Intelligenz‘ auszuschöpfen.
Trotz der enormen Relevanz von KI halten sich viele Unternehmen bei der Umsetzung noch stark zurück. Der Digitalverband Bitkom hat im Juni 2020 eine repräsentative Umfrage von 603 Firmen mit mindestens 20 MitarbeiterInnen aus allen Branchen veröffentlicht. Demnach sehen zwar 73 Prozent der Unternehmen KI als die wichtigste Zukunftstechnologie. Jedoch wird KI nur von 6 Prozent der Firmen genutzt, 22 Prozent planen zumindest die Nutzung. Noch bedenklicher als die zurückhaltende Umsetzung ist dabei, dass KI primär als Bedrohung und kaum als Chance wahrgenommen wird. So sagen 81 Prozent der Firmen voraus, dass globale Tech-Konzerne wie Amazon und Google durch KI zunehmend zu ernsthaften Konkurrenten in ganz unterschiedlichen etablierten Branchen werden.

In meinem aktuellen Buch ‚Integrierte Intelligenz‘ werden Firmen bezüglich ihrer operativen Aktivität und strategischen Priorität von KI in fünf Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe sind die ‚Beobachter‘, weil diese Firmen die Relevanz von KI im Vergleich zu anderen Themen noch als gering einschätzen, auch wenn die Corona-Krise zu einer verstärkten Sensibilisierung für digitale Geschäftsmodelle und Datenanalytik beigetragen hat. Die zweite Gruppe der ‚Strategen‘ konzentriert sich bisher hauptsächlich auf die Planung von KI-Initiativen, wohingegen die Implementierung in diesen Firmen noch sehr überschaubar ist. Im Gegensatz dazu gibt es die dritte Gruppe der ‚Aktivisten‘. Diese Firmen experimentieren meist relativ dezentral mit mehreren KI-Projekten, die jedoch nicht strategisch auf Unternehmensebene koordiniert werden.

Was machen die Pioniere?

Die ‚Vorreiter‘ Unternehmen bilden die vierte Gruppe und diese Pioniere zeichnen sich durch hohe strategische Priorität sowie hohe operative Aktivität bei KI aus. Allerdings konzentrieren sich diese Firmen erstaunlich oft auf Kostensenkungen durch die KI-basierte Automatisierung von Jobs. So werden beispielsweise MitarbeiterInnen, die Kundenanfragen beantworten, durch relativ einfache KI-Lösungen wie Chatbots ersetzt. Diese Unternehmen sind also dahingehend Pioniere, dass sie einzelne KI-Lösungen mit hoher Priorität nutzen. Gleichzeitig bleiben die marktseitigen Wachstumschancen von KI durch das Adressieren neuer Kundenbedürfnisse weitgehend ungenutzt.

Nur die fünfte Gruppe der ‚Stars‘ wendet KI jenseits von Kostensenkungen an. Diese sehr kleine Untergruppe der Pionier-Unternehmen versucht, Wachstumschancen durch KI-basierte Marktstrategien mit Blick auf neue Kundenbedürfnisse zu erschließen. Im Einklang mit dieser Einteilung zeigen die Ergebnisse der oben genannten Bitkom-Umfrage, dass komplexere KI-Anwendungen eher selten sind. Von den Firmen, die KI bereits anwenden, nutzen 69 Prozent KI z.B. für Targeting und personalisierte Werbung im Marketing. Hingegen wird KI nur in 1 Prozent dieser Anwender-Unternehmen bei der Entwicklung neuer Produkte genutzt, z.B. im Rahmen von Simulationen. Meist erfolgt nicht einmal der Versuch, neue Marktchancen durch KI zu ergreifen.

Wie können Kunden profitieren?

Gerade weil KI noch zu oft als technologische Bedrohung und primär als Chance für neue Wettbewerber angesehen wird, kann das Marketing einen entscheidenden Beitrag leisten, um solche Defizite bei der Nutzung von KI zu vermeiden. Der Ansatz der ‚Integrierten Intelligenz‘ unterstreicht den Mehrwert, wenn etablierte Firmen ihre bestehende menschliche Expertise in Märkten und Technologien zielgerichtet mit KI und Datenanalytik kombinieren. Bei KI-Anwendungen muss das Marketing daher insbesondere den Fokus auf Kundenbedürfnisse sicherstellen. Nur wenn die Kunden profitieren und im Idealfall innovative Lösungen mit KI einfordern, wird bei vielen Unternehmen ein Umdenken hinsichtlich der Marktchancen jenseits der Bedrohungen durch KI erfolgen. Die Entwicklung intelligenter neuer Produkte und Dienstleistungen bietet die Möglichkeit, sowohl die Wettbewerbsposition in bestehenden Märkten zu behaupten als auch völlig neue Marktsegmente zu erschließen.

Marketing, Produktmanagement und Vertrieb müssen also dafür sorgen, dass der integrierte Mehrwert für den Kunden – und nicht das aus KI-Sicht technologisch Machbare – im Vordergrund steht. Das tiefgreifende Verständnis der Marketing-Verantwortlichen für die jeweiligen Kundenbedürfnisse ist genauso ein Beispiel für herausragende menschliche Expertise wie die langjährige Erfahrung von Ingenieuren in der Entwicklungsabteilung. Wenn Führungskräfte in der Lage sind, diese unterschiedlichen Formen menschlicher Intelligenz und Kompetenz mit KI und Datenanalytik zu kombinieren, bieten sich durch ‚Integrierte Intelligenz‘ auch langfristig Wettbewerbsvorteile – gegenüber bestehenden Wettbewerbern ebenso wie gegenüber globalen Tech-Konzernen.

 

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