Wie funktioniert Retourenvermeidung im Online-Shopping durch KI?

Von   Christian Trippner   |  Senior Technical Specialist   |  IBM
25. August 2020

Der Onlinehandel wächst – und damit auch die Anzahl der Rücksendungen. Für den Verbraucher ist es unkompliziert, bequem und meist kostenlos: Jede sechste Online-Bestellung wird als Retoure zurückgeschickt.  Davon landet öfter mal ein Teil im Müll. Um Ressourcen zu sparen und Retouren zu minimieren, lassen sich mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) und Data Science clevere Modelle entwickeln. Das eröffnet zudem weitere Vorteile.
Die Bundesregierung will Händler gesetzlich dazu verpflichten, entsprechende Waren, so weit wie möglich, erneut zu verkaufen oder wiederverwertbar zu machen. Damit soll verhindert werden, dass eigentlich noch hochwertige Artikel vernichtet werden, dies ist insbesondere im Onlinehandel üblich, um Platz in den Regalen zu schaffen oder weil zurückgesendete Artikel wegzuwerfen günstiger ist als sie erneut zu verkaufen.

Dieses Gesetz wird viele Online- und Versandhändler vor massive Probleme stellen. Grund genug, sich ein paar Gedanken zu dieser Thematik und deren Lösung zu machen.

Jungfrau (40), männlich, sucht …

Ein typisches Retouren-Szenario aus dem Onlinehandel könnte beispielsweise wie folgt aussehen:

Ein fiktiver Kunde, 39 Jahre alt, männlich, verheiratet, lebt in einer Großstadt in Deutschland, hat zwei Kinder, besitzt einen höheren Bildungsabschluss, arbeitet als Teamleiter in einer IT-Firma, wohnt in einem Reihenhaus, besitzt ein Auto, einen Hund, geht gerne Bergwandern und spielt in seiner Freizeit gerne Fußball.

Er hat kürzlich im Onlinehandel zwei Anzüge bestellt, einen dunkelgrauen und einen dunkelblauen, sowie ein paar Schuhe und eine Regenjacke für das Bergwandern.

Als die Bestellung bei ihm daheim ankommt, stellt er fest, dass die Schuhe wie angegossen passen, die Regenjacke zwar passt, aber die Farbe nicht ganz so wie auf dem Bild aussieht und einer der Anzüge zu groß ist.

Einen der Anzüge (dunkelblau) und die Regenjacke schickt er zurück.

Diese Sendung kommt nach ein paar Tagen beim Versandhaus als Retoure zurück und muss aufbereitet werden, um wieder in den Verkauf zu gelangen.

Für das Versandunternehmen stellen sich nun folgende Aufgaben bzw. auch Fragen:

  • Wie viele Retouren sind insgesamt pro Zeiteinheit und Periode zu erwarten?
  • Welcher Art werden diese Retouren sein, d. h. was ist der Grund für den Rückversand und um welche Produkte geht es hauptsächlich?
  • Wie hoch wird der Aufbereitungsaufwand sein?
  • Welche Art von Bestellung bedingt welche Retouren (Art, Zustand, Menge)?
  • Gibt es Kundenprofile, die besonders wenig, oder auch besonders viele Retouren ver­ursachen?
  • Bei welchem Kundentyp habe ich mit welcher Art von Retoure und welcher Häufigkeit zu rechnen?
  • Wie viele interne Ressourcen und Mitarbeiter muss ich wann und wie einsetzen, um diese Retouren aufzuarbeiten?

Ein digitales Profil des Kunden auf Basis von Datenmodellen

Ein wesentlicher Baustein zur Lösung dieser Anforderungen sind Data-Science- und KI-Verfahren, die mit mathematisch-statistischen Methoden geeignete Vorhersagemodelle entwickeln. Aber auf was stützen sich nun die Analyse und Modellerstellung in der Praxis?

Vor allem auf historische Daten wie dem Bestellverhalten, historischen Kundentransaktionen, der Bestellhistorie und manchmal auch elektronischem Schriftverkehr (E-Mails oder soziale Medien). All diese Informationen werden mit einem geeigneten Algorithmus oder Verfahren des maschinellen Lernens zu einem oder mehreren Modellen verrechnet.

Diese Kundenmerkmale, über alle verfügbaren Kunden analysiert, können zu Profilen bzw. Modellen verarbeitet werden, mit denen sich oben genannte Fragen beantworten und abschätzen lassen. Um diese Profile bzw. Modelle anzulegen, können etwa folgende Kundeninformationen aufschlussreich sein:

Alter 39 Jahre
Altersgruppe 35-50 Jahre
Geschlecht männlich
Familienstand verheiratet
Wohnort städtisch
Kinder im Haushalt Ja
Bildungsabschluss Abitur, anschließendes Fachstudium
Beruf leitender Angestellter
Fachbereich IT
Hausbesitz ja
Auto ja
Haustier ja
Hobbies Wandern, Fußball, Sport

 

Diese Merkmale und ihr oben erwähntes Bestellverhalten lassen vermuten, dass diese Kundin oft online einkauft und dabei drei bis fünf Artikel im Warenkorb liegen, von denen ca. 20 Prozent zurückgesendet werden.

Die Datenmenge entscheidend für den Erfolg

Liegen diese Informationen für den Großteil des Kundenstamms und tagesaktuell vor, dann kann ein Data Scientist für die jeweiligen Profile Kategorien und darauf aufbauend Modelle entwickeln. Dies könnte zum Beispiel der Retourentyp (sendet nie/fast nie zurück, sendet häufig zurück, sendet fast immer zurück) sein, und/oder das Mengengerüst, also die Anzahl der zurückgesendeten Teile und der Aufbereitungssaufwand der Retouren.

Konkret gibt eine derartige Modellierung folgende Einblicke:

  • zeit- und saisonabhängige Vorhersagen zu den Mengengerüsten der zurückgesendeten Artikel
  • tages- und wochenaktuelle Prognosen zu den benötigten Personalbedarfen
  • typische Profile von Rücksendern
  • Produkte und Produktkombinationen, welche besonders häufig zurückgesendet werden
  • Aufwandsabschätzungen, die für die Aufbereitung und Wiederverwertung nötig sind
  • kundenspezifische Affinitätsprofile
  • gezieltes Kampagnenmanagement betreiben und
  • Vorhersagen zur Kaufwahrscheinlichkeit bestimmter Produkte.

Mit diesen Informationen können anschließend geeignete Maßnahmen ergriffen und Strategien entwickelt werden, um Retouren zu vermeiden.

Das könnten im Einzelnen zum Beispiel detaillierte Produktbeschreibungen sein, die vom KI-Modell gesteuert werden oder maßgeschneiderte, profilspezifische Beratung im Kundencenter. Eine weitere Möglichkeit wäre bereits im Vorfeld, also bevor die Bestellung eingeht, Änderungen im Bezahlsystem bzw. den Bezahlmöglichkeiten vorzunehmen. Oder es werden Maßnahmen ergriffen, die „ungehemmtes“ Bestellverhalten regulieren.

Erste Schritte

Zum Projektstart ist es ratsam gemeinsam mit dem Kunden einen Daten- und Use-Case-Workshop durchzuführen, um mögliche Potenziale aufzudecken und zu bewerten. Abhängig von der individuellen Situation des Kunden dauert so ein Workshop in der Regel ein bis drei Tage.

Ziel des Workshops
Anhand eines konkreten Anwendungsfalls, den der Kunde im Vorfeld definiert, und mithilfe von KI–Lösungen lässt sich abschätzen, welche Resultate und Erfolge mit einer entsprechenden Datenmodellierung zu erwarten sind.

Folgende Ergebnisse lassen sich mithilfe eines Daten- und Use-Case-Workshops erzielen:

  • das Unternehmen lernt seine Daten selbst besser kennen und erkennt welche Aus­wertungspotenziale in ihnen stecken
  • die Fachabteilung formuliert ein oder mehrere konkrete Fragestellungen für nützliche Anwendungsfälle
  • Gemeinsam werden die analytischen Potenziale in den Daten erforscht und es erfolgt eine Abschätzung, welcher Nutzen für den Kunden aus den Daten zu holen ist
  • die Anwender bekommen einen Überblick und ein Gefühl für den geschäftlichen Nutzen einer entsprechenden Modellierung
  • der Kunde kann abschätzen wie hoch der Aufwand und die Kosten für ein konkretes Analyseprojekt anzusetzen sind

Auf dieser Grundlage kann sehr fundiert entschieden werden, ob und welche nächsten Schritte sinnvoll sind. Zu Beginn ist meist ein kleines Serviceprojekt mit einer Modellierung sinnvoll, deren Ergebnisse in konkreten Geschäftssituationen anwendbar sind.

Vielseitige Modelle und zusätzlicher Mehrwert für E-Shops

Das Praktische ist, dass diese Modelle je nach Einsatzgebiet, bedarfsgerecht benutzt werden können. Das heißt etwa „händisch“ bei bestimmten Projekten, die einmalig oder periodisch anfallen. Möglich ist jedoch auch eine automatische Nutzung im Batchmodus auf Webseiten, die in Abhängigkeit der Modelle, dynamischen und personalisierten Inhalt aufbauen. Schließlich können sie auch im Rahmen der Kundenberatung bzw. Fallabwicklung in Call-Center-Applikationen zur Unterstützung der Agenten hinzugezogen werden.

Als Folge dieser Vorhersagen und Modellierungsmöglichkeiten ergeben sich verschiedene KPIs und zusätzlicher Mehrwert für das Unternehmen. Gängige Vorteile sind die Zeit- und Kostenersparnis in zahlreichen Geschäftsbereichen, effizienter Personaleinsatz, bessere Planungsgrundlagen. Aber auch erhöhte Kundenzufriedenheit und Kundenloyalität wegen der verbesserten Fallabwicklung und die oft höhere Wertschöpfung sowie erhöhte Verkaufspotenziale aufgrund besserer und perso­nalisierter Kundenansprache machen Online-Händler wettbewerbsfähig.

Analyse und Modellerstellung geben Online- und Versandhändlern nicht nur umfassende Einblicke in das Bestellverhalten ihrer Kunden, sondern mit ihrer Hilfe lässt sich auch Retouren besser vorhersehen – und im Idealfall sogar ganz vermeiden. Unternehmen aus dem E-Commerce sollten daher die Möglichkeiten und Potenziale von Data Science und KI-Verfahren nutzen, um effektiv Kosten zu senken und einzusparen.

 

arbeitet seit über 25 Jahren im Bereich Datenanalyse und Modellbildung. Als Data Science Spezialist betreut er KI-Projekte aus dem Bereich Consumer, Retail, Entwicklung & Produktion und Wissenschaft. Als Gastdozent ist er an mehreren Universitäten im DACH-Bereich tätig.

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