Das Recht auf Ruhephasen: Lieber Arbeitgeber, Schluss mit der 24/7 Erreichbarkeit

Von   Thomas Kerjean   |  CEO   |  Mailinblack
23. Juni 2020

Moderne Kommunikationsmittel haben die Welt grundlegend verändert, insbesondere auch die Arbeitswelt. Wir sind längst nicht mehr auf einen bestimmten Arbeitsplatz wie beispielsweise in Form eines Büros angewiesen – die Covid-19-Pandemie hat das auch weitaus traditionelleren Unternehmen nun mehr als deutlich bewiesen. Schon seit mehr als 20 Jahren fordern etablierte Vertreter der Technologiebranche ein neues Arbeitsumfeld. Inspiriert durch den flexiblen, autonomen und verantwortungsbewussten kalifornischen Arbeitsstil wurde ihre Philosophie von der Schaffung von Kommunikations- und Kollaborationswerkzeugen begleitet. Diese zielen darauf ab, die Silos des traditionellen Unternehmens für eine individuellere und kollektivere Effizienz aufzubrechen.

Digitale Helfer: Fluch und Segen zugleich

Kollaborative Plattformen haben das alltägliche Arbeitsleben maßgeblich vereinfacht – sei es für Mitarbeitende, Bürger, Patienten oder Verbraucher. Außerdem haben sie dazu beigetragen, dass die Menschen auf globaler Ebene miteinander vernetzt sind. Anwendungen, die auf künstlicher Intelligenz basieren sind sogar in der Lage, Sätze vorzuschlagen, E-Mails zu generieren und den Benutzern zuzuhören, um sie beim Bestellvorgang zu unterstützen. Damit wird sowohl die Effizienz gesteigert als auch Zeit von Nutzern eingespart.

Wir sind in der Tat mobil bestens vernetzt und dank Smartphones, Notebooks und anderen Endgeräten so flexibel wie noch nie zuvor. Demnach gehört heutzutage für viele Unternehmen und Mitarbeitende, die Möglichkeit vom Homeoffice arbeiten zu können zum Standard. Es können Freiräume für Mitarbeitende geschaffen und private und berufliche Verpflichtungen besser aufeinander abgestimmt werden. Damit einhergehend entsteht auch der eigene Anspruch immer und überall für den Arbeitgeber erreichbar zu sein.  Dieses Phänomen begünstigt jedoch eine Gefahr: sich selbst in der Freizeit nicht mehr von der Arbeit distanzieren zu können. Der aktuellen Studie The 2020 State of Remote Work[1] von Buffer zufolge, steigt zwar die Beliebtheit des Konzepts, aber knapp ein Fünftel der Befragten hat Schwierigkeiten, im Homeoffice abzuschalten. Obwohl in Unternehmen moderne Kommunikationsmittel eingesetzt werden, um den Arbeitsalltag zu vereinfachen und den Stress zu minimieren, können genau diese Helfer im privaten Gebrauch Stress auslösen – vor allem wenn die Mitarbeitenden sie außerhalb der Arbeitszeit nutzen. Doch in Zeiten der ständigen Verfügbarkeit liegt eins für mich klar auf der Hand: Die Unternehmen müssen sich der Verantwortung stellen und ein Recht auf Ruhephasen garantieren, um nachhaltig das Wohlbefinden der Teams zu gewährleisten.

Treiben uns kollaborative Plattformen in eine Abhängigkeit?

Auf wirtschaftlicher Ebene wurden diese Instrumente entwickelt, um Geschäfte zu generieren. Ist es also nicht das Ziel dieser Plattformen, ihre Nutzer langfristig abhängig zu machen?

Heutzutage nutzt fast die gesamte Weltbevölkerung die unterschiedlichsten E-Mail-Anwendungen und das bereits sobald sie aufwacht. Die Gesamtzeit der Vernetzung ist in den letzten 15 Jahren von 4,5 auf 5,5 Stunden pro Tag angestiegen. Angesichts der ständigen Erreichbarkeit ist jedoch die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen wie beispielsweise Burnout in der breiten Gesellschaft massiv angestiegen. So sorgen sich viele CEOs um das Wohlergehen ihrer Mitarbeiter. Länder wie Frankreich haben im Zuge dessen bereits ein Gesetz verabschiedet, das Mitarbeitenden das Recht einräumt, ihre Erreichbarkeit ausschließlich auf ihre Kernarbeitszeiten zu limitieren.

Weltweit werden jährlich rund 300 Milliarden elektronische Nachrichten verschickt – hinzu kommen Anwendungen für Echtzeit-Kommunikation und soziale Netzwerke. Sei es am frühen Morgen, am späten Abend, an Wochenenden oder an Feiertagen: Die Flut an E-Mails und anderweitigen Nachrichten lässt nicht nach. Dabei sind 75 Prozent aller E-Mails, die im Postfach landen, Spam-Nachrichten, die zur Ineffizienz am Arbeitsplatz beitragen.

Die Ursache des zu lösenden Problems liegt ersichtlich in dem Widerspruch zwischen dem Geschäftsziel und dem erklärten Wunsch, die Beziehungen und Aufgaben für die Mitarbeitenden reibungsloser zu gestalten. Eine effektive Zusammenarbeit setzt jedoch Zeiten des technologischen Nicht-Konsums voraus.

Wir brauchen einen Kulturwandel!

Die Arbeitswelt befindet sich im permanenten Umbruch und das in einem beachtlichen Tempo – traditionelle Arbeitsmodelle greifen nicht mehr. Arbeits- und Privatleben rücken immer näher zusammen. Aus diesem Grund ist ein Umdenken längst überfällig, um den Anforderungen beider Bereiche gerecht zu werden. Der klare Verstand sagt uns, dass Mitarbeitende für den Arbeitgeber nicht rund um die Uhr verfügbar sein können und darauf müssen wir hören. Sie haben das Recht auf Ruhephasen! Das Thema ist zwar nicht neu, aber die Lösungen sind es allemal. Sowohl das traditionelle, hierarchische Modell als auch das kalifornische Modell 2.0 haben in der Vergangenheit ihre Berechtigung gehabt, aber nun ist es an der Zeit ein neues zu schaffen. Letztlich muss unsere Aufmerksamkeit darauf liegen, den erforderlichen Kulturwandel sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wirtschaft voranzutreiben –  anstoßen allein ist hier unzureichend.

Doch was ist eine Unternehmenskultur? Kultur kann in Unternehmen als innerer Kompass verstanden werden, an dem sich Mitarbeitende orientieren können. Es ist eine Symbiose aus den Eindrücken von Außenstehenden und Mitarbeitenden einer Organisation. Dabei setzt sich die Unternehmenskultur aus mehreren Aspekten zusammen – Werte, Verhaltensweisen und Arbeitsprozesse sind nur einige Beispiele, die Einfluss darauf nehmen. Allerdings ist genau diese Vielschichtigkeit einer Unternehmenskultur auch die größte Herausforderung für einen Wandel und setzt einen langen Atem voraus. In vielen Unternehmen, insbesondere in gestandenen mit langjähriger Tradition, ist die Unternehmenskultur fest verwurzelt. Das macht einen Kulturwandel in solchen Unternehmen nicht gerade einfacher, denn bekanntlich sitzen Gewohnheiten tief.

Der Ausgleich macht’s

Das Recht auf Ruhephasen ist eine Sache des Respekts und die Einführung dieser ausdrücklichen Erwähnung seitens der Arbeitgeber sollte zur Normalität werden. Insbesondere beim Verfassen und Empfangen von E-Mails außerhalb der geregelten Arbeitszeiten. Ein anonymer Barometer innerhalb eines Unternehmen kann dafür ein erster Schritt sein, der von mehreren Unternehmen bereits getestet wird.

Neue Technologien werden überall angewandt. Sie erlauben es, Talente anzuwerben, zu rekrutieren und zu halten. Aber Führungskräfte müssen sich diesem Thema annehmen, um die Arbeitsbedingungen ihrer Teams auch auf mentaler Ebene zu verbessern. Die digitale Transformation wird nur dann Sinn machen, wenn die Unternehmenskultur Sinn macht und ihren rechtmäßigen Platz am Arbeitsplatz einnimmt. Es ist an der Zeit, ein neues Arbeitsmodell zu erfinden!

 

Quellen und Referenzen:

[1]https://lp.buffer.com/state-of-remote-work-2020

 

Thomas Kerjean, ehemaliger Direktor der Abteilung Cloud & AI bei Microsoft Frankreich, ist seit Mai 2019 Geschäftsführer von Mailinblack.

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