Was kann digitales Versichern? – Künstliche Intelligenz und Maschinenlernen auf dem Vertrauensprüfstand

Von   Marius Simon   |  CTO   |  Getsafe
18. Juni 2020

Sie sind gekommen, um zu bleiben: Insurtechs fordern die traditionellen Versicherer mit digitalen, einfachen und flexiblen Lösungen und einem schnellen Kundenservice heraus. Schnell ist die Rede von smarten Technologien, von Künstlicher Intelligenz (KI) und Maschinenlernen. Doch wie intelligent sind die Systeme wirklich?
Google, Amazon oder Facebook haben es vorgemacht: Daten sind die Währung der Zukunft. Das gilt in besonderem Maße für Versicherer. Denn wer das Verhalten und die Lebenssituation seiner Kunden kennt, kann Risiken genauer bepreisen, Betrugsfälle minimieren und Kundenerwartungen besser erfüllen.

Versicherungswelt in Kinderschuhen

Selbstlernende Systeme, die eigene Entscheidungen treffen, sind in der Versicherungswelt jedoch bislang weitgehend Fehlanzeige. Der Grund: Die wenigsten Versicherer besitzen eine IT-Infrastruktur, die es erlauben würde, Kundendaten über die gesamte Vertragslaufzeit und alle Schnittstellen zu bündeln. Sie verfügen also nicht über ausreichend hochwertige und korrekt klassifizierte Trainingsdaten, mit denen die Algorithmen lernen können.

Stattdessen setzen die meisten Unternehmen auf regelbasierte Systeme, die fest konfigurierten Regeln gehorchen.

Dabei ist das Potenzial gerade in der Versicherungsbranche enorm: Die Prozesse sind datenintensiv und beruhen oft auf Wiederholung. Viele Kundenanfragen, Schadensmeldungen oder Datenanalysen ließen sich theoretisch standardisieren und automatisieren – ideale Voraussetzungen, um intelligente Maschinen einzusetzen.

So sind sich die Experten einig, dass KI mittel- bis langfristig die Versicherungsbranche revolutionieren wird. Smarte Algorithmen werden helfen, Versicherungsbetrug schneller zu erkennen und Risiken genauer zu bewerten. Dadurch kann KI genutzt werden, um personalisierte Produkte zu schaffen. In Kombination mit Sensorik und dem „Internet der Dinge“, kurz IoT, hilft KI auch bei der Prävention.

Was der Kunde will

Gemeinsam gedacht werden diese vielen Möglichkeiten dazu führen, dass Versicherungsprodukte deutlich individueller und fairer für das Kollektiv werden. Künstliche Intelligenz könnte Vertrauen auf Basis von Daten berechnen und gewissermaßen synthetisieren. Kunden, die vertrauenswürdig sind, können dann beispielsweise von günstigeren Preisen oder einer schnelleren Schadensbearbeitung profitieren.

Was das bedeuten kann, ist vielleicht noch nicht ganz klar. Versichern beruht seit jeher auf dem Prinzip der kollektiven Risikoübernahme. Die Gemeinschaft trägt den Schaden des Einzelnen mit. Durch künstliche Intelligenz wird dieses Prinzip hinterfragt. Subjektiven Entscheidungen einzelner Experten stünden dann objektive, trainierte Systeme entgegen, die sich nicht von Emotionen oder Stress beeindrucken ließen.

Auf diese Weise könnten Insurtechs Versicherungsbetrüger vorzeitig entlarven, Risiken minimieren, Preise dynamisch angepassen. Sie können Diskriminierung ausschalten und anstelle externer Faktoren wie Alter, Wohnort, Beruf oder Name das Verhalten des Kunden analysieren. Es entsteht ein völlig neues Risikoprofil, basierend auf Daten. Und die technologische Revolution steht erst am Anfang.

Zwischen individualisierten Angeboten und Überwachung

Eine entscheidende Frage, die sich digitale Versicherer stellen werden, liegt außerdem abseits jeder technologischen Machbarkeit. Es wird darum gehen, was überhaupt gesellschaftlich gewollt ist. Was, wenn sich der Versicherungsschutz nach dem Verhalten des Individuums richtet? Zahlt mehr, wer häufig in Risikogebiete reist oder in einem gefährlichen Bezirk zuhause ist? Ist ein Android User ein besserer Kunde als ein iPhone-Besitzer?

Wie weit will der Kunde mit den Insurtechs gehen? Telematiktarife im KFZ-Bereich weisen schon heute in diese Richtung. Ist es nicht fairer, den Preis aufgrund des persönlichen Fahrstils zu ermitteln? Könnten Wasserschäden in der Wohnung nicht sogar schon im Vorfeld durch intelligente Sensoren und Sturmschäden durch die Echtzeit-Auswertung von Wetterdaten vermieden werden? Sollten Versicherungskunden intelligente Schösser verwenden, um günstigere Tarife zu bekommen? Wie sieht es bei der gesundheitlichen Prävention aus?

Politische Debatte notwendig

Die Frage nach dem transparenten Umgang mit Daten werden auch traditionelle Versicherer beantworten müssen. Noch setzen die meisten Insurtechs und immer mehr etablierte Versicherer auf regelbasierte Algorithmen, also keine künstliche Intelligenz im Sinne eines komplett selbstständig lernenden Systems. Noch entscheiden Menschen darüber, welche Kunden angenommen und wie Tarife berechnet werden, welche Schäden ausbezahlt werden und welche nicht. Dabei spielen Kriterien wie Geschlecht, Alter, berufliche Tätigkeit, Wohnort oder Herkunft ein Rolle.

In den kommenden Jahren werden sich Versicherungen weg von konkreten Produkten entwickeln und ganzheitlichen Schutz versprechen. Daten und intelligente Systeme werden den Fokus verlagern – weg davon, Schäden zu regulieren, hin dazu, Risiken vorzubeugen. Voraussetzung dafür ist eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie individuell Versicherung sein soll. Mit der besten Absicht im Hintergrund, einer positiven KI, die man dem Nutzer zum Vorteil reichen kann, lassen sich Bedenken zumindest einfangen. Absolute Transparenz wird dabei zum obersten Credo und Vertrauensindex.

 

Marius Simon ist CTO und Mitgründer des Heidelberger Insurtechs Getsafe. Im März wurde Simon vom Forbes-Magazin im Ranking der „Forbes 30 Under 30“ als junger Zukunftspionier gleich doppelt in den Kategorien „Technology“ und „Big Money“ ausgezeichnet.

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